Morland 02 - Die Blume des Bösen
Sellerie – wächst alles in meinem Garten. Na ja, bis auf das Stück Suppenfleisch. Das hole ich mir immer beim Fleischer um die Ecke. Iss, solange die Suppe heiß ist. Kalt schmeckt sie nicht.«
Tess probierte vorsichtig. Überrascht riss sie die Augen auf. »Sie ist hervorragend!«
»Ich weiß«, sagte Nora nur. »Ein Stück Brot?«
»Gerne«, sagte Tess und riss sich einen Kanten ab, den sie in die Brühe tunkte. Schwelgerisch verdrehte sie die Augen. »Wie machen Sie das?«
»Was? Die Suppe? Das ist keine große Kunst.«
»Nein«, sagte Tess. »Ich meine, Sie sind blind. Wie können Sie das alles alleine machen? Den Tisch decken. Kochen.«
»Das habe ich dir doch schon erzählt: Ich sehe auch mit den anderen Sinnen, vor allen Dingen mit meinen Ohren. Die Suppe zum Beispiel. Ich höre es, wenn sie kocht, und weiß so, wo sich der Topf befindet. Damit ich mich nicht verbrenne, habe ich ihn so gedreht, dass sich die beiden Griffe genau links und rechts an der Seite befinden. Dann nehme ich meine Topflappen, die sich immer am selben Platz befinden. Sobald ich sie nicht mehr brauche, hänge ich sie wieder zurück. Blind sein erfordert Disziplin und ein gutes Gedächtnis.«
»Und Ihre Gabe hilft Ihnen dabei«, sagte Tess mit vollem Mund.
Nora runzelte die Stirn, als müsste sie über diese Worte erst einmal nachdenken. »Nicht wirklich«, sagte sie dann. »Genau genommen ist meine Gabe ein wenig ... verwirrend.« Nora machte eine bedeutsame Pause, dann stand sie auf und trat ans Fenster. »Wundert es dich nicht, dass die Luft hier so sauber riecht?«
Tess drehte sich auf ihrer Bank um und sah wieder hinaus zu dem Garten, wo der riesige Baum sich langsam im Wind wiegte. In der Tat war der Himmel so blau, wie sie ihn über Lorick noch nie gesehen hatte.
»Sie haben Recht«, sagte sie. »Und mir fällt noch etwas auf.« Tess stand auf. »Ich höre keinen Lärm. Nach dem Absturz des Luftschiffes müsste draußen der Teufel los sein, aber ich höre sogar die Vögel singen.«
Nora nickte. »Das liegt daran, dass sich dieser Raum und dieser Garten nicht mehr in Lorick befinden. Zumindest nicht in dem Lorick, das wir beide kennen.«
Tess ließ den Löffel sinken, den sie gerade zum Mund führen wollte. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Nun, ich kann in die Zukunft schauen«, sagte Nora mit einem schmalen Lächeln, als müsste sie sich die Ironie, die dieser Satz hatte, auf der Zunge zergehen lassen. Sie legte ein wenig den Kopf schief und drehte sich zu Tess um. »Das heißt jetzt nicht, dass alle zukünftigen Ereignisse ganz klar vor mir lägen. Ich erkenne vielmehr Muster.« Tess atmete hörbar aus und Nora lächelte nun noch mehr. »Die Zukunft ist nicht fest gefügt. Ihre Gestalt ist abhängig vom freien Willen der Menschen. Manche haben die Macht, große Veränderungen herbeizuführen. Andere sind schwächer.«
»Und wie stark sind Sie ?«, fragte Tess. Sie legte den Löffel beiseite und schob den Teller von sich fort.
»Ich bin nur eine Beobachterin.« Noras Worte klangen bescheiden. »Ich habe eine Ahnung, welchen Weg wir einschlagen müssen, um unser Ziel zu erreichen.« Sie zeigte aus dem Fenster. »Und manchmal bin ich in der Lage, ein Stück vorauszugehen.«
»Wissen Sie, was sich jenseits der Mauern befindet?«, fragte Tess.
»Wie gesagt, ich habe eine Ahnung, mehr aber nicht.«
»Sie waren noch nicht in dieser Welt da draußen?« Tess reckte den Kopf in die Höhe, um vielleicht doch mehr als nur ziegelrotes Mauerwerk zu sehen.
»Oh nein. Den Garten habe ich nie verlassen. Das wäre zu gefährlich. Ich würde den Weg niemals zurückfinden.« Nora legte die Hand auf die Schulter des Mädchens. »Du vergisst, dass ich blind bin.«
»Ja, das vergesse ich in der Tat manchmal«, murmelte Tess. Sie war ganz aufgeregt. Lag hinter diesen Mauern wirklich die Zukunft wie ein unentdecktes Land? Eine Zukunft, die sich so gründlich von der tristen Gegenwart unterschied, dass sogar der Himmel anders aussah? Tess hätte viel dafür gegeben, sie zu sehen. Sogar ihre magische Gabe.
»Nun, wie auch immer«, sagte Nora. »Jedenfalls bist du sicher. Niemand wird uns hier finden. Noch nicht einmal dieser Swann.«
»Swann ist tot«, sagte Tess.
Nora erstarrte. »Was sagst du da?«
»Er ist von einem Polizisten erschossen worden, als Swann uns mit einem anderen Eskatay nach Morvangar gefolgt ist.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Nora mit angespannter Stimme. »Dies ist keine Sache, mit der man Späße
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