Morland 02 - Die Blume des Bösen
aufgegeben worden war wie alle anderen Läden in Süderborg.
Tess wischte mit ihrem Ärmel den Dreck von der Fensterscheibe und spähte in das Innere. Alles sah noch immer so aus wie bei ihrem letzten Besuch, vollgestellt mit Trödel und Gerümpel, das auf den ersten Blick vollkommen nutzlos zu sein schien. Tess trat einen Schritt zurück und schaute die Fassade hinauf. Auch die Fensterläden im oberen Geschoss unter dem Giebel waren geschlossen.
Mittlerweile war es in der Straße totenstill geworden. Nurein paar alte Zeitungsfetzen tanzten im Wind. Dann begann der Boden zu vibrieren. Erst war es nur ein Kitzeln an den Fußsohlen, dann ein Zittern, das die Fensterscheiben klirren ließ. Etwas näherte sich. Etwas, was sich wie die Ahnung eines heraufziehenden Unheils anfühlte.
Es war ein gepanzerter Dampfwagen, auf dessen Dach sich ein kleiner Geschützturm drehte. Hinter dem kantigen, schwerfälligen Gefährt hatten Soldaten Deckung gesucht. Tess fluchte. Sie musste fort von hier und es später noch einmal versuchen – wenn es ein Später gab. Die Armee würde das Viertel besetzen und dabei wahrscheinlich die historischen fünfhundert Jahre alten Wehranlagen benutzen, um die Stellung zu sichern und dann die Gassen von aufrührerischen Elementen zu säubern. Sie war zwar stark, aber nicht stark genug für diese Übermacht. Außerdem musste sie vorsichtig sein, wenn sie ihre Kräfte einsetzte. Wenn die Eskatay erst einmal wussten, dass ein Gist in der Stadt war, würden sie gnadenlos Jagd auf sie machen.
Tess wandte sich gerade zur Flucht, als ein kleines Glöckchen klingelte. Die Tür zu Noras Laden stand offen.
»Rein mit dir, mein Kind«, flüsterte eine leise, rauchige Stimme.
Ohne zu überlegen, huschte Tess hinein. Hinter ihr klingelte das Glöckchen erneut, dann fiel die Tür ins Schloss. Sie schaute sich um, konnte aber im trüben Dämmerlicht niemanden erkennen.
»Nora?«, flüsterte Tess unsicher.
»Keine Angst«, sagte die Stimme. »Du bist in Sicherheit. Hier wird dich niemand finden.«
Tess drehte sich um und sah die alte blinde Frau gestützt auf ihren Stock im Schatten stehen. Tess war so froh, Nora wiederzusehen, dass sie sie erleichtert in die Arme schloss.
»Sei vorsichtig«, sagte Nora und tätschelte Tess den Rücken. »Meine Knochen sind nicht mehr die stabilsten.«
Lachen mischte sich unter Tess’ Tränen und sie drückte die alte Dame noch einmal. Dann trat sie einen Schritt zurück. Im Licht, das durch die schmutzigen Fenster fiel, sah Nora längst nicht so gebrechlich aus, wie Tess sie in Erinnerung hatte. Zwar ähnelten die Finger noch immer knotigen Vogelkrallen, aber der Körper machte einen strafferen, geradezu verjüngten Eindruck. Die Augen schimmerten noch immer milchig, schauten aber wach.
»Lass mich gerade noch die Türe abschließen«, sagte Nora und kramte einen Schlüsselbund aus der Kitteltasche. Dann drehte sie sich zu Tess um.
»Du siehst hungrig aus. Ich habe mir gerade eine Suppe zubereitet. Komm.«
Tess, die daran gewöhnt war, dass Nora zwar blind war, ihr jedoch nichts zu entgehen schien, folgte Nora, blieb aber an der Schwelle zur Küche stehen.
»Oh«, machte sie nur.
Die Küche war im Gegensatz zum staubigen, unübersichtlich eingerichteten Laden sauber und aufgeräumt. Alles hatte seinen Platz, nichts lag herum. Auf der Fensterbank standen verschiedene Blumentöpfe mit wohlriechenden Kräutern, blank gescheuerte Kupfertöpfe baumelten an Haken über einem blitzsauberen Gasherd. Das Geschirr, ausreichend für eine große Abendtafel, befand sich in einem schlichten Vitrinenschrank,dessen Holz ungewöhnlich hell und feinmaserig war. Mittelpunkt des Raumes war ein großer Tisch, auf dem bereits zwei tiefe Teller und ein Brotkorb standen, so als hätte Nora mit Tess’ Besuch gerechnet. Warmes Sonnenlicht fiel durch das halb geöffnete Fenster und verursachte, hervorgerufen durch das Blätterwerk eines weit ausladenden Baumes, ein beruhigendes Schattenspiel.
»Du solltest dich beeilen und die Tür hinter dir schließen«, drängte Nora.
Tess nickte verwirrt und tat, was man ihr sagte.
»Löffel findest du in der rechten Schublade.« Die alte Frau drehte die Gasflamme herunter, stellte den Topf auf den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Sie wies ihren Gast mit einem Fingerzeig an, auf der Eckbank Platz zu nehmen.
»Das ist eine Gemüsesuppe«, sagte Nora, als sie die Teller füllte. »Kohlrabi, Möhren, Kartoffeln, Zwiebeln, Lauch, Knoblauch und
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