Morland 02 - Die Blume des Bösen
schob sich vor die milchig trübe Sonnenscheibe und schwenkte die Propeller so, dass das Gefährt reglos über ihnen in der Luft stand. Die Menge verstummte und schaute wie Tess überrascht hinauf zu dieserfliegenden Zigarre, an deren Basis eine lang gezogene Gondel hing.
Eine dumpfe Bedrohung ging von dem Monstrum aus, das vielleicht zweihundert Fuß über ihnen schwebte. Von der Besatzung war nichts zu sehen. Stattdessen öffnete sich der Verschluss der Signallampe, die am Bug des Luftschiffes befestigt war, und sandte eine Reihe von Lichtblitzen in Richtung Regierungsviertel. Tess drehte sich um und sah, wie die Signale von der Spitze eines Hochhauses, das sich fünf Meilen entfernt an der westlichen Flussbiegung befand, beantwortet wurden. So ging das einige Zeit lang hin und her, ohne dass etwas von Bedeutung geschah. Dann sah sie aus den Augenwinkeln, wie einer der Arbeiter mit einem der erbeuteten Gewehre auf das Luftschiff zielte. Sie wollte etwas rufen, aber es war zu spät. Ein Schuss durchpeitschte die Stille, sodass alle zusammenzuckten. Die Motoren heulten auf und das Gefährt, das zwar riesig war, aber dennoch zerbrechlich wirkte, versuchte nach Norden abzudrehen. Doch alles passierte viel zu langsam. Ein zweiter und dritter Schuss fielen. Die Menge jubelte, aber Tess rannte, so schnell sie konnte.
Irgendwie musste eine Kugel an einem der tragenden Teile einen Funken geschlagen haben, denn augenblicklich brach das Inferno los. Das austretende Gas fing Feuer und dann ging alles ganz schnell. Es war keine laute Explosion, sondern klang eher wie das Fauchen eines gigantischen Gasbrenners. Die silberne Zigarre sackte nach hinten weg. Die Arbeiter reckten jubelnd ihre Fäuste in die Luft, verstummten aber, als alle merkten, dass dieser brennende Riese direkt auf sieniederging. Tess konnte sehen, dass der Mann, der so dumm gewesen war, die Waffe abzufeuern, nun das Gewehr fallen ließ und sich abwandte, um mit einem panischen Ausdruck in den Augen zu fliehen. Doch der Weg wurde ihm von der Menge versperrt. Das Luftschiff machte eine Drehung um neunzig Grad und steuerte auf den Fluss hinaus, wo es über der Brücke abstürzte. Dennoch fielen einige der brennenden Trümmerteile auf am Ufer gebaute Lagerhäuser, durchschlugen deren Dächer und setzten die eingelagerten Waren in Brand. Von irgendwoher ertönte auf einmal das nagende Leiern einer Sirene. Ein unbeschreibliches Chaos brach aus. Die Männer, die vor wenigen Sekunden noch den Abschuss des Luftschiffes bejubelt hatten und nun nicht schnell genug fliehen konnten, wurden zu Tode getrampelt. Jeder suchte kopflos das Weite.
Tess, die rücksichtslos herumgestoßen und getreten wurde, war plötzlich wie gelähmt vor Panik – bis ihr wieder einfiel, dass sie kein normales Mädchen war und ihr eigentlich nichts geschehen konnte. Sie musste nur ihre Angst überwinden. Tess schluckte und wischte sich zögernd die schweißnassen Hände an der Hose ab.
Tess stand in einem Strom Flüchtender wie ein Fels inmitten eines Flusses. Sie wurde angestoßen, aber sie rührte sich nicht, nahm die heftigen Rempler noch nicht einmal zur Kenntnis. Sie kniff die Augen zusammen und besann sich auf die zweite Gabe, die sich zum ersten Mal in dem Moment manifestiert hatte, als sie York aus den Händen Egmonts befreit hatte, der York nach seiner Flucht aus dem Haus des ermordeten Richters verfolgt hatte. Um sie herum schienenalle in ihren Bewegungen einzufrieren. Die Zeit stand still. Tess sah sich um und als sie sich in all dem Durcheinander orientiert hatte, rannte sie los.
Tess brauchte einige Minuten, bis sie sich wieder im Gewirr der kleinen Straßen zurechtfand. Die Zeit lief wieder in ihrer normalen Geschwindigkeit ab. Nur wenige Menschen liefen, aufgeschreckt durch den Lärm und die Qualmwolke, zu der Unglücksstelle. Tess musste sich beeilen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es in dem Viertel nur so von Soldaten wimmelte.
Sie kam an der Eisernen Jungfrau vorbei, deren Fenster und Türen nun mit dicken Brettern vernagelt waren. Phineas Wooster hatte seine Kneipe, an die Tess keine guten Erinnerungen hatte, wie so viele andere Wirte geschlossen. Noch vor einer Woche war Süderborg ein Viertel voller Leben gewesen, aber nun schien es wie ausgestorben. Doch Tess hielt sich nicht lange mit solchen Sentimentalitäten auf. Nach einigem Suchen fand sie endlich Noras Laden.
Die Enttäuschung war groß, als Tess feststellen musste, dass das Geschäft anscheinend ebenso
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