Morland 02 - Die Blume des Bösen
macht.«
»Ich bin dabei gewesen. Der Name des Polizisten ist Hagen Lennart. Er hat bei unserer Flucht seine Frau verloren. Seine Kinder wurden entführt. Deswegen ist er nach Lorick zurückgekehrt. Ich habe ihn begleitet, bis er in eine Kontrolle geriet und verhaftet wurde.«
Nora sackte zusammen und begrub das Gesicht in ihren Händen. Tess sprang auf und legte ihr beruhigend einen Arm um die Schulter.
»Ich wusste nicht, dass dies eine solch schlechte Nachricht ist«, flüsterte sie.
Nora kramte aus ihrer Kittelschürze ein zusammengeknülltes Taschentuch und wischte sich die Augen.
»Kind, das ist keine schlechte Nachricht. Im Gegenteil! Ganz im Gegenteil!« Sie schnäuzte sich herzhaft, faltete dasTaschentuch umständlich zusammen und steckte es dann wieder weg. »Swann war unser gefährlichster Gegenspieler unter den Eskatay. Sie wissen, dass es die Gist gibt, und seit Begarells Wahl zum Präsidenten suchen sie uns.«
»Um sich mit uns zu vereinigen?«, fragte Tess.
Nora lachte trocken. »So könnte man es auch nennen. Die Eskatay haben ein Problem. Damit ein Mensch in ihr Kollektiv aufsteigt und einer von ihnen wird, muss er sich infizieren lassen. Mehr als die Hälfte von ihnen stirbt dabei. Und die, die diese Prozedur überleben, können keine Kinder mehr bekommen. Sie sind unfruchtbar, Männer wie Frauen.«
Jetzt verstand Tess. »Deswegen verfolgen sie uns! Sie wollen herausfinden, was die Eskatay von den Gist unterscheidet!«
»Und wie sie so wie wir werden können!«, ergänzte Nora. »Einigen von uns war Swann sehr dicht auf der Spur. Sie konnten sich nur vor ihm retten, indem sie den Tod wählten.«
»Die Serienmorde!«, sagte Tess atemlos, die sich an die kopflosen Leichen erinnerte, die vor dem Ausnahme zustand die Schlagzeilen der Zeitungen beherrscht hatten. Hagen Lennart war Leiter der Sonderkommission gewesen, die die Verbrechen aufklären sollte.
»Das, was uns von den Eskatay unterscheidet, befindet sich hier oben.« Nora tippte sich an den Kopf. »Glaub mir, wenn sie dich oder irgendjemand anderen von uns fangen, werden sie da oben hineinschauen. Und wenn du dabei noch lebst – nun, umso besser für sie. Und umso schlechter für dich.«
Tess spürte, wie ihr auf einmal kalt wurde. Ein Gedanke nahm Gestalt an, der so ungeheuerlich war, dass sie ihn kaum auszusprechen wagte. »Haben Sie die Gist, die sich getötet haben, gekannt?«, fragte sie so leise, dass es einem Flüstern gleichkam.
Nora nickte.
»Waren ...« Tess schluckte. Sie hatte auf einmal einen ziemlich trockenen Mund. »Waren meine Eltern unter ihnen?«
Nora holte tief Luft. »Ja«, sagte sie schließlich und ergriff die Hand des Mädchens. »Es tut mir leid.«
Tess senkte den Blick. »Ich verstehe.«
»Sie waren gute Menschen. Sie haben alles gegeben, um dich zu schützen.«
»Sogar ihr Leben«, sagte Tess mit erstickter Stimme. »Sogar ihr Leben«, bestätigte Nora. Sie wollte Tess in den Arm nehmen, aber die schob sie weg.
»Wie kann ich herausfinden, was mit ihnen geschehen ist?« Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
»Nun, es gibt da einen Weg. Er führt dich an einen speziellen Ort, den du aber nur erreichst, wenn du die Kunst des Klarträumens beherrschst. Hast du schon einmal geträumt und dabei gewusst, dass du träumst?«, fragte Nora.
Tess schüttelte verwirrt den Kopf. »Von so etwas habe ich noch nie gehört.«
»Und doch ist es möglich. Es verlangt ein wenig Übung, aber du kannst diesen Zustand bewusst herbeiführen. Dazu musst du nur jeden Morgen nach dem Erwachen versuchendich an deine Träume zu erinnern. Schreibe sie auf. Versuche, sie im Wachen noch einmal zu durchleben. Wenn du das lange genug übst, wirst du irgendwann in der Lage sein, deine Träume zu steuern.«
»Das würde ich gerne tun«, sagte Tess. »Aber mir fehlt die Zeit. Ich habe versprochen, Hagen Lennart bei der Suche nach seinen Töchtern zu helfen, und ich möchte nicht die Zweite sein, die ihr Versprechen ihm gegenüber bricht.«
»Kind, du hast alle Zeit der Welt«, sagte Nora und lächelte. »Du vergisst, dass du dich an einem ganz besonderen Ort befindest.«
***
Es war ein schmerzhaftes Erwachen für Hagen Lennart. Er lag auf dem Bauch, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Sein Kopf dröhnte wie eine Glocke, die einen kräftigen Schlag erhalten hatte und nun mit einem dumpfen Klang nachhallte. Noch wollte er nicht die Augen öffnen, denn er hoffte, wieder in diese wunderbare,
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