Morland 02 - Die Blume des Bösen
unterscheiden wir uns von den Eskatay?«, fragte Tess. »Wie kommt es, dass wir die magische Begabung an unsere Kinder weitergeben können?«
»Ich glaube, es hat mit den Nachwirkungen des Krieges zu tun«, sagte Nora. »Schlaf jetzt.«
»Ich muss mal.«
»Untersteh dich. Mach die Augen zu und denke an etwas Schönes.« Nora legte sanft eine Hand auf Tess’ Gesicht, und es war, als ob jemand eine dunkle, warme Decke über sie ausbreitete.
Tess verlor wie jedes Mal, wenn sie einschlief, das Bewusstseinfür die Zeit und den sie umgebenden Raum, sah wirre und zusammenhangslose Bilder, die sich auflösten und immer wieder neu arrangierten. Sie schlief, und doch war sie wach, denn sie fragte sich, wie nah der Schlaf dem Tod war, ob er wirklich sein kleiner Bruder war. Und als sie das dachte, wusste sie, dass sie eigentlich schlief.
Tess öffnete die Augen.
Vor ihr stand der Portier des Grand Hotels und hielt ihr die blank polierte, messingbeschlagene Tür auf.
»Guten Abend«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.«
»Danke«, sagte Tess und betrat die große Eingangshalle. Warme, leicht parfümierte Luft umschmeichelte sie. Irgendwo spielte jemand auf einem Klavier eine Melodie, die Tess zu kennen glaubte. Der Boden war mit rötlichem, fein geädertem Marmor ausgelegt, die Kuppeldecke strahlte wie die mit abstrakten Mustern verzierten Säulen in einer Mischung aus Creme und Gold. Üppige Blumengebinde verströmten einen betörenden Duft. Vor dem Kamin waren verschwenderisch bequeme Sessel um einen niedrigen Tisch angeordnet. In einigen saßen elegant gekleidete Männer und Frauen, die sich entweder angeregt miteinander unterhielten oder in einem Buch lasen und dabei Wein tranken.
Langsam drehte sich Tess im Kreis, um wirklich jedes Detail in sich aufzunehmen, denn sie wusste: Sie war heimgekehrt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solch ein Gefühl der Sicherheit erfüllt. Alles, was sie in der wachen Welt belastete, war hier ohne Belang, als hätte sie den Standpunkt verändert, von dem aus sie ihr Leben betrachtete und sich ineine Höhe geschwungen, die sie zum ersten Mal das große Ganze erkennen ließ. Tess strahlte über das ganze Gesicht. Alles war perfekt, wenn sie nur nicht so dringend auf die Toilette gemusst hätte.
»Darf ich Ihnen helfen?«, fragte ein freundlich lächelnder Herr, der so elegant gekleidet war, dass Tess vor lauter Ehrfurcht kein Wort herausbrachte. Noch nie war sie von einem Mann so respektvoll und verbindlich angesprochen worden. Er vermittelte ihr das Gefühl, nur für sie auf der Welt zu sein, um all ihre Wünsche zu erfüllen.
»Junge Dame?«, fragte er erneut und hatte dabei einen belustigten Zug um den Mund, der keinesfalls abschätzig war, sondern freudige Anteilnahme ausdrückte. »Es ist Ihr erster Besuch im Grand Hotel , nicht wahr?«
Tess nickte.
»Kein Grund, nervös zu sein«, sagte er. »Glauben Sie mir, wenn Sie sich einmal an diesen Ort gewöhnt haben, werden Sie ihn nicht mehr verlassen wollen. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«
Trinken? Oh Gott. Tess schüttelte den Kopf. »Ich müsste einmal ganz dringend auf die Toilette. Könnten Sie mir bitte den Weg zeigen?«
Der Empfangschef – Tess wusste plötzlich, dass die beiden gekreuzten Schlüssel auf dem Revers des schwarzen Anzugs nichts anderes bedeuteten – machte ein bedauerndes Gesicht. »Ich fürchte, dass Ihnen der Besuch dieser Örtlichkeit keinerlei Erleichterung verschaffen wird. Sie haben vor dem Einschlafen wahrscheinlich eine gehörige Menge Flüssigkeit zu sich genommen, um in den Zustand des Klartraums zugelangen. Das ist eine besonders bei Novizen beliebte Technik, die aber ihre Nachteile hat, leider. Aber vielleicht möchten Sie ja Ihr Zimmer beziehen?«
»Mein Zimmer?«
»Ihr Domizil für die Dauer Ihres Besuches. Jeder Gast hat ein Zimmer, auf das er sich zurückziehen kann, wenn er es möchte.«
»Gerne«, sagte Tess und versuchte, nicht an ihre volle Blase zu denken.
»Dann folgen sie mir bitte an die Rezeption, wo Sie sich in das Empfangsbuch eintragen möchten. Diese lästige Prozedur müssen Sie nur einmal durchlaufen. Danach werden wir Sie als Stammgast führen.«
Tess folgte dem Empfangschef und schaute sich noch immer um, als würde sie träumen – nur um gleich darauf zu lachen. Natürlich träumte sie! Darum ging es ja bei der Sache! Aber dass die Illusion so perfekt war, konnte sie noch immer nicht fassen. Alle ihre Sinne wurden auf das
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