Morland 02 - Die Blume des Bösen
an der grauen Schürze ab. »Bring ich dir.« Sie verschwand in der Küche.
Tess kletterte auf einen Hocker und legte die Arme auf den Tresen. Im Vergleich zum Fassbeinigen Rappen war Phineas Woosters Eiserne Jungfrau eine heruntergekommene, dunkle Kaschemme gewesen. Hier waren die Räume hell und hoch. Auf den Fensterbänken standen Topfpflanzen, die augenscheinlich mit viel Liebe gepflegt wurden, denn sie gediehen prächtig. Die Tische waren mit Wachs poliert, die Stühle sahen trotz der fehlenden Polster sehr bequem aus. An den weiß gestrichenen Wänden hingen Spiegel, die denRaum größer erscheinen ließen, als er tatsächlich war. Aus der Küche erklang das Scheppern von Töpfen und Pfannen.
Tess hörte, wie hinter ihr die Tür geöffnet wurde und der Lärm der Straße für einen kurzen Moment in die Gaststube drang. Ein Mann brummelte einen Gruß, hängte Jacke und Hut an einen Garderobenhaken und setzte sich an einen der freien Tische. Tess blickte hoch in den Spiegel, der über dem Tresen hing. Der Mann hatte die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet und wartete nun geduldig auf die Bedienung.
Tess musterte ihn eindringlich. Er machte einen in sich gekehrten Eindruck, als ob ihn etwas bedrückte. Seine Augen deuteten auf einen hellen Verstand hin, obwohl sie müde in ihren tiefen Höhlen lagen.
Die Uhr schlug halb fünf. Hinter Tess ging erneut die Tür auf. Eine rundliche Frau, den kleinen, mit roten Kirschen verzierten Hut keck nach vorne geschoben, betrat den Raum. Die Entschlossenheit ihres Gesichtsausdrucks wurde durch die rosigen Wangen ein wenig gemildert. Tess runzelte die Stirn. Sie wusste nicht woher, aber sie kannte diese Frau.
Die Dame schaute sich kurz um und für einen kurzen Moment glaubte Tess, dass sie und der Mann sich kannten. Es war nur ein Blinzeln, eine knappe, kaum merkliche Geste der Vertrautheit, dann setzte sich die Dame an den Nebentisch, wo sie ihre kleine Handtasche öffnete, um sich die Nase zu pudern.
Tess kramte fieberhaft in ihrem Gedächtnis. Irgendetwas war ihr an dieser Frau dermaßen vertraut, dass Tess nicht anders konnte, als sie durch den Spiegel unverhohlen anzustarren.Und das wohl ziemlich auffällig, denn die Dame erwiderte den Blick und runzelte die Stirn.
Schließlich nahm sich Tess ein Herz und drehte sich auf ihrem Stuhl um.
»Entschuldigung?«, fragte sie. »Sind Sie auch wegen des Liederkranzes hier?«
»Oh ja«, sagte die Dame mit einem Lächeln. »Und ich kenne dich. Du hast vorletzte Woche die Anzeige bei mir aufgegeben. Obwohl du damals noch ein Junge warst.«
Richtig! Jetzt wusste Tess, wo sie das Gesicht einordnen musste. Sie rutschte von ihrem Stuhl und ging zu der Frau hi nüber.
»Guten Tag. Mein Name ist Tess.«
Die Frau hob die Augenbrauen, dann lächelte sie über das ganze Gesicht. »Und ich bin Edith. Edith Ansdottir.«
»Nun, dann können wir ja wenigstens ein Terzett singen«, sagte jetzt der Mann und stand ebenfalls auf. »Mein Name ist Anton Diffring.« Er reichte Tess die Hand.
»Sie beide kennen sich schon«, stellte Tess fest.
»Oh ja. Schon länger. Wir haben schon manches Lied gemeinsam gesungen«, sagte Diffring und lächelte Edith an. »Werden noch andere kommen?«, fragte Tess.
»Nein«, sagte Diffring leise. »Sie sind alle verhaftet worden. Es ist im Moment ein wenig gefährlich für uns.« Er blickte auf, als die Wirtin erschien und Tess das Essen servierte, redete aber weiter. »Wir wissen nicht, wie uns der Geheimdienst aufspüren konnte, aber die Armee der Morgenröte ist stark dezimiert worden. Das sieht vorzüglich aus. Was ist das, Morna?«
»Huhn«, sagte die Wirtin. »Es ist noch genug da.« »Dann hätte ich auch gerne eine Portion«, sagte Edith.
»Wird gemacht«, antwortete Morna und wollte gerade
wieder in die Küche gehen, als sie innehielt und das Schild an
der Tür von Geöffnet auf Geschlossen drehte.
»Wo ist Henriksson?«, fragte Edith.
Tess stutzte zunächst, doch dann fiel ihr ein, dass Edith Henriksson natürlich kannte. Sie waren alle Mitglieder der Armee der Morgenröte. »Irgendwo auf halbem Weg nach Morvangar. Zusammen mit Eliasson und zwei Freunden von mir, Hakon und York.«
»York?«, fragte Diffring ungläubig. »Etwa York Urban, der Sohn des Richters?«
»Ja«, sagte Tess verwirrt. »Kennen Sie ihn?«
»Das will ich wohl meinen. Ich war sein Hauslehrer. Als ich vorletzte Woche kam, um ihn zu unterrichten, war er nicht da. Egmont, der ehemalige Sekretär seines Vaters, teilte
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