Morland 02 - Die Blume des Bösen
ist ein Traum, das sollten Sie nie vergessen. Ein Traum, der Ihren Regeln folgt. Nun, an diesem Ort natürlich mit gewissen Einschränkungen.«
»Ich denke, ich lasse alles so, wie es ist«, sagte Tess und nickte zufrieden.
»Sehr wohl.« Armand trat an einen Schrank und öffnete ihn. »Da hier jeder ohne Gepäck anreist, halten wir immer eine Auswahl an Kleidung der passenden Größe bereit. Ich denke, Sie werden etwas nach ihrem Geschmack finden.«
»Und wo ist das Schlafzimmer?«, fragte Tess.
Armand lächelte nachsichtig. »Sie haben keines, weil Sie es nicht benötigen. Sie schlafen bereits.«
»Oh«, sagte Tess und musste kichern. »Richtig. Das hätte ich beinahe vergessen.«
»Dann lasse ich Sie jetzt alleine«, sagte Armand und gab ihr den Schlüssel. »Wenn Sie etwas benötigen, ziehen Sie bitte einfach an der Klingel neben der Tür.« Er verneigte sich leicht und schloss die Tür hinter sich.
Tess blieb erst einmal wie betäubt stehen. Dies war in der Tat ein Traum, und zwar der beste, den sie jemals in ihrem Leben gehabt hatte. Noch einmal unterzog sie das Zimmer einer genaueren Untersuchung. In einem Vitrinenschrank standen Bücher, die genau ihrem Geschmack entsprachen und schon in der Bücherei des Waisenhauses ganz oben auf ihrer Wunschliste gestanden hatten. Tess legte den Kopf schief und sah die Bücher genauer an. Wenn das wirklich ihr Traum war, mussten zwischen den Deckeln leere Seiten sein. Immerhin kannte sie die Geschichten nicht, die auf ihnen erzählt wurden. Sie öffnete die Glastür und zog Das Glasherz von Margret Linder hervor, eine Liebesgeschichte, die Frau Hamina, die Leiterin der Waisenhausbibliothek, wegen einiger anzüglicher Passagen in ihren Giftschrank gesperrt hatte. Vorsichtig schlug Tess den Deckel auf und las die Widmung Für Eduard Linder – Freund, Ehemann und Geliebter.
Tess musste grinsen. Das Wort Geliebter hatte wahrscheinlich schon ausgereicht, um der Bibliothekarin Pickel wachsen zu lassen. Tess schlug willkürlich eine Seite auf und begann zu lesen. Nach zwei Zeilen kam sie zu dem Schluss, dass sie Das Glasherz wirklich noch nicht kannte, und stellte es wieder zurück. Wahrscheinlich verband das Hotel all die Erfahrungen, Gedanken und Erinnerungen aller Gist, diejemals hier ein Zimmer bezogen hatten, zu einer großen perfekten Illusion. Die Frage war nur, wer oder was sie zusammenhielt.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass in einer Ecke auf einem kleinen Teetisch etwas stand, was wie eine riesige Blume aussah. Als sie es genauer in Augenschein nahm, stellte sie fest, dass es sich dabei um einen Trichter handelte, der mit einem Gelenkarm verbunden war, der wiederum in einer spitzen Nadel mündete. Tess drehte an einer Kurbel und eine schwarze Scheibe begann sich zu drehen. Vorsichtig setzte Tess die Nadel auf. Aus dem Trichter klang erst ein hohles Kratzen, dann schmetterte ein Orchester los. So laut, dass Tess einen Satz zurückmachte. Sie stellte fest, dass unter den Büchern noch mehr von diesen Platten standen. Sie las die Titel, aber keiner von ihnen sagte ihr etwas. Dennoch klang das, was aus dem Trichter kam, ganz nett.
Was sollte sie jetzt tun? Ein Bad nehmen war vielleicht keine schlechte Idee. Sie ließ heißes Wasser in die Wanne und suchte eines von einem halben Dutzend unterschiedlicher Schaumbäder aus. Sie entschied sich für eine rosa Flasche. Nervös trippelte sie von einem Fuß auf den anderen. Zu dumm, dass es hier keine Toilette gab. Sie versuchte, den Harndrang zu ignorieren, zog sich aus und glitt in die Wanne, während eine der Stimme nach zu urteilen ziemlich dicke Sängerin von unerfüllter Liebe zu einem Matrosen sang. Tess seufzte wohlig und tauchte so tief ein, dass der Schaum in ihren Ohren kitzelte. Am liebsten wäre sie eingeschlafen, aber das ging wohl nicht an diesem Ort.
Nach zehn Minuten, als sie schon das Gefühl hatte, langsamweich gekocht zu sein, stieg sie aus der Wanne, trocknete sich mit einem dieser wunderbaren Handtücher ab und tappte auf nackten Füßen ins Wohnzimmer, wo nun die Nadel in der Auslaufrille der Schallplatte ein rhythmisches Geräusch verursachte, das vom Trichter bizarr verstärkt wurde.
Tess nahm die Platte vom Drehteller und steckte sie in die leere Hülle, die am Tischbein angelehnt war. Dann inspizierte sie den Schrank genauer. Zunächst einmal zog sie sich seidene Unterwäsche an, darüber ein leuchtend rotes Samtkleid, das innen mit Seide gefüttert war, so weich und kühl wie eine zweite
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