Morland 02 - Die Blume des Bösen
Vorschlag: Hier im Hotel wirst du alle möglichen Leute treffen. Viele haben sich zusammengeschlossen, um sich über bestimmte Themen auszutauschen. Wie gesagt, wirf einen Blick auf das Schwarze Brett. Dort wirst du ganz bestimmt finden, was du suchst.«
Tess bedankte sich und durchschritt die Eingangshalle, wo noch immer einige Gist in ihren hohen Lehnsesseln saßen, in Zeitungen blätterten oder sich angeregt unterhielten. Sie blieb stehen und lauschte unauffällig einer dieser Konversationen. Es waren eitle Gespräche, ohne Substanz und Inhalt, nur Klatsch und Tratsch. Eine andere Gruppe gut situierter Männer verkostete gerade eine Reihe von Weinen und rauchte üppige Zigarren. Manche spielten vollkommen versunken Schach, andere aßen ununterbrochen und zauberten eine neue Köstlichkeit herbei, wenn der Teller geleert war. Tess fragte sich, welchen Sinn es hatte, sich mit Leckereinen vollzustopfen, die doch nur eine Illusion waren.
Das Schwarze Brett befand sich direkt neben dem Eingang in einem Raum, der wie ein kleiner, gemütlicher Salon gestaltetwar, in dem neben einigen Sesseln auch vier Schreibtische standen, an denen man vorgedruckte Zettel mit seinen Anfragen und Angeboten ausfüllen konnte. Die Wand, an die man sie dann heften konnte, war so groß, dass man auf eine Leiter steigen musste, um einen freien Platz zu finden.
»Eine ziemlich umständliche Angelegenheit«, sagte jemand hinter ihr. Tess drehte sich um, konnte aber niemanden entdecken. Erst als ein Sessel umgedreht wurde, sah Tess die Frau. Sie war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt und trug zu einem knielangen schwarzen Rock ein Männerjackett in derselben Farbe. Die dunkelbraunen, seitlich gescheitelten Haare waren im Nacken sehr kurz geschnitten, fast ausrasiert, während ihr eine lange Strähne auf den Kragen eines weißen Hemdes fiel, der von einer schwarzen Krawatte zusammengehalten wurde. »Ich besuche das Hotel jetzt schon so lange, aber noch keiner ist auf die Idee gekommen, dieses unsägliche Schwarze Brett gegen etwas Praktischeres auszutauschen. Da gibt es keine Sortierung nach Themen und Daten, nichts. Und wenn man die Zettel lesen will, die ganz oben hängen, braucht man ein Fernglas. Was suchst du denn? Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Ich versuche etwas über meine Eltern zu erfahren«, sagte Tess.
»Kennst du ihre Namen?«
Tess schüttelte den Kopf.
»Dann wirst du sehr wahrscheinlich keinen Erfolg haben. Du könntest natürlich eine Nachricht schreiben, in der steht: Ich heiße Tess, bin am soundsovielten in Dingsda geboren und suche meine Eltern. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieserZettel dann von der richtigen Person gelesen wird, ist jedoch denkbar gering. Kein Gist verirrt sich mehr in diesen Salon, weil jeder es als sinnlos betrachtet, über dieses Brett miteinander zu kommunizieren. Du kannst übrigens ruhig du zu mir sagen.«
»Dann sprich doch mal mit der Geschäftsführung«, sagte Tess. »Ich meine, was du sagst, leuchtet auch mir ein.« Sie zeigte auf die Wand. »Das hier ist jedenfalls vollkommen unübersichtlich.«
»Es gibt keine Geschäftsführung«, sagte ihr Gegenüber. »Wir sind alle eine große Familie, in der jeder alles macht, egal ob er dafür geeignet ist oder nicht.«
Irgendetwas in der Stimme der jungen Frau irritierte Tess. »Aber wer entscheidet dann, wenn etwas geändert werden muss?«, fragte sie.
»Dann gibt es eine Vollversammlung und es wird geredet und geredet und geredet. Manchmal denke ich, es wäre nicht schlecht, wenn hier jemand mal mit der Faust auf den Tisch haute und sagte, wo es langgeht. Aber alle sind hier so phlegmatisch !«
»Dann hau du doch auf den Tisch«, sagte Tess.
»Oh, das habe ich bereits einmal getan«, sagte die Frau mit einem amüsierten Lächeln.
»Und?«
»Daraufhin kamen für die nächste Zeit so wenige Gäste ins Grand Hotel , dass wir nicht beschlussfähig waren. So viel dazu.« Die junge Frau setzte sich wieder und schlug elegant die Beine übereinander.
»Wie gefällt es dir hier?«, fragte sie Tess.
»Es ist unglaublich! Atemberaubend! In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so etwas gesehen.«
»Nur dumm, dass man hier nicht auf Toilette gehen kann, nicht wahr?«
»Woher weißt du, dass ich mal muss?«
»So nervös, wie du herumhüpfst, ist das nur zu offensichtlich. Außerdem bist du neu hier. Wasser trinken ist ein sehr beliebter Anfängertrick, einen Klartraum herbeizuführen«, sagte sie und strahlte Tess mit Augen an, die so blau
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