Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
heftig zu schlagen. »Wurde sie verfolgt?«
»Das hat sie nicht verraten, aber ich vermute es. Zumindest hatte sie an jenem Tag etwas Gehetztes an sich.« Marga lächelte. »Drei Jahre warst du damals alt. Und von deinem Vater war weit und breit nichts zu sehen.«
Seine Mutter war also allein und dazu noch auf der Flucht gewesen.
»Svetlana hatte eine Stelle als Schreibkraft bei der Provinzverwaltung. Wenn sie arbeitete, kümmerte ich mich um dich. Was warst du für ein aufgeweckter Junge, immer freundlich, immer gut gelaunt! Du warst so jung! Und dennoch konntest du schon lesen, schreiben und sogar ein wenig rechnen. Außerdem habe ich noch nie ein Kind gesehen, das in dem Alter so schnell laufen konnte. Wir haben oft Fangen gespielt und damals war ich noch um einiges beweglicher als heute. Aber du warst flink wie ein Wiesel und bist mir immer entwischt!«
Sie lächelte ihn mit feuchten Augen an. »Der Provinzrichter, für den Svetlana arbeitete, war ein wunderbarer Mann. Erik Urban hat euch beide großzügig unterstützt. Ich glaube, er hatte sich unsterblich in deine Mutter und ihre dunklen Augen verliebt.«
Falls York jemals an der Echtheit der Adoptionsurkunde gezweifelt hatte: Jetzt hatte er endgültig den Beweis, dass der Richter nicht sein leiblicher Vater war.
»Erik Urban war ein Mann von höchsten Prinzipien, der die Situation deiner Mutter nie ausgenutzt hätte. Das wäre für sie auch nie infrage gekommen. Dazu war sie zu sehr eine Dame.«
»Können Sie sie mir beschreiben?«, fragte York mit brüchiger Stimme. Er spürte: So nah wie heute würde er seiner Mutter nie wieder kommen.
»Wenn du wissen möchtest, wie sie ausgesehen hat, musst du nur in den Spiegel schauen«, sagte Marga. »Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Und auch ihr Wesen glich sehr dem deinen. Auch sie konnte nicht lange still sitzen, war immer in Bewegung. Sie war s o …«, Marga rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, während sie nach den richtigen Worten suchte, » … quecksilbrig! Ja, das beschreibt sie am besten.«
»Wie lange ging das zwischen ihr und meinem Vate r … ich meine, Erik Urban?«
»Ein halbes Jahr. Dann stand eines Tages ein Mann vor der Tür, ein unangenehmer Kerl mit Glatze und Brille.«
»Swann!«, rief Hakon.
»Ja, ich glaube, so hieß er«, sagte Marga. »Er wollte wissen, wo deine Mutter war. Ich sagte ihm die Wahrheit: dass sie zusammen mit dir und Erik Urban übers Wochenende fortgefahren war, ich aber euer Reiseziel nicht kannte.«
»Wie hat er reagiert?«, fragte York.
Marga zuckte mit den Schultern. »Er ging, ohne weitere Fragen zu stellen.« Sie schüttelte sich. »Dieser Swann hatte etwas sehr Unangenehmes an sich. Er kam mir vor wie jemand, der Vergnügen darin findet, seiner dunklen Seite nachzugeben.«
»Wie hat meine Mutter auf den Besuch reagiert?«, fragte York.
»Bestürzt. Offenbar wusste sie, wer sie da gefunden hatte. Noch am selben Abend packte sie ihre Sachen und reiste ab. Erik Urban wollte sie noch zum Bahnhof fahren. Das war der Tag, an dem ich Svetlana Tereschkova zum letzten Mal gesehen habe. Richter Urban hat sich wohl noch in derselben Woche versetzen lassen. Ich würde zu gerne wissen, was aus den beiden geworden ist.«
»Sie sind tot«, sagte York.
Marga schlug die Hand vor den Mund. »Oh nein.«
»Ich bin bei Erik Urban aufgewachsen«, sagte York. »An meine Mutter kann ich mich nicht mehr erinnern.«
Hakon legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. York war froh über diese Geste. Noch einmal wollte er sich von der alten Dame nicht umarmen lassen. Das hätte er nicht ertragen. Immerhin war sie so etwas wie eine Großmutter für ihn gewesen, wenn auch nur für kurze Zeit.
»Haben Sie vielleicht eine Ambrotypie meiner Mutter?«, fragte er.
»Oh, leider nein«, sagte Marga bedauernd und wischte sich mit einem Taschentuch die Augen. »Svetlana hat nichts hinterlassen. Als sie an diesem Abend vor zehn Jahren ging, war es, als wäre sie niemals hier gewesen.«
»Es wird Zeit«, flüsterte Hakon. »Wir sind schon länger hier, als wir sollten.«
York nickte. Er wandte sich an die Bewohner des Hauses. »Sie werden nicht mehr zurückkehren können.« Eine Frau schluchzte, einige der Männer stöhnten. »Wenn Sie noch etwas Wichtiges mitnehmen wollen, Dokumente, Urkunden oder Andenken, dann sollten Sie sie jetzt holen. Wir warten fünf Minuten. Wer bis dahin nicht zurück ist, auf den können wir leider nicht warten.«
Die Männer, Frauen und Kinder,
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