Morpheus #2
Der Gerichtsdiener wünschte ihr gute Nacht und schloss die Tür hinter ihr ab.
Die Rolltreppen waren längst abgestellt, die Putzkolonnen waren da gewesen und wieder gegangen. Sie manövrierte ihren Wagen um das gelbe Schild mit der Aufschrift «Vorsicht! Nasser Boden!»
und nahm den Fahrstuhl in die Lobby. Dann verließ sie das Gerichtsgebäude über die Rollstuhlrampe, vorbei an dem dunklen Betonklotz des County Jail.
Heute Abend hatte sie einen Zwanzigjährigen wegen zweifachen Mordes angeklagt und in einem leeren Gerichtssaal miterlebt, wie der Richter ihn zu zweimal lebenslänglich verurteilte. Morgen um zehn war ein Treffen mit den Angehörigen in einem anderen Mord, und die ganze nächste Woche hatte sie Vernehmungen zu einem alten Mordfall, den die Polizei der City of Miami gerade mit Hilfe der DNA-Datenbank des FDLE in Tallahassee gelöst hatte.
Und die nächsten sechs Monate sah es in ihrem Kalender nicht anders aus. Nur die Namen wechselten.
Sie nickte dem gelangweilten Sicherheitsbeam-ten zu, der neben den Metalldetektoren in der leeren Lobby saß und in einer Zeitschrift las. Ihr Kopf tat weh und ihre Schultern waren verspannt. Das Gewicht, das auf ihr lastete, wurde immer schwerer in letzter Zeit. Es war fast halb elf, und wieder war sie die Letzte, die das Schlachtfeld räumte, wieder zog sie auf dem Aktenwägelchen einen Kadaver hinter sich her. Die Arbeit war ihr Gefängnis, doch sie war auch ihre einzige Zuflucht. Und ihre Büßer-klause.
Nach Bantlings Aufstand vor Gericht wusste sie mit tödlicher Sicherheit, dass sie, egal, wie stark ihr Fluchtinstinkt war, ihren Job niemals an den Nagel hängen würde, bis sein Todesurteil vollstreckt war.
Seiner Verurteilung hatte sie ihr Leben gewidmet, und sie würde diese Mission zu Ende bringen. Und auf dem Weg dorthin würde sie eben noch ein paar andere Übeltäter hinter Gitter bringen. Die Staatsanwaltschaft war ihr Leben geworden, innerhalb dieser Grenzen bewegte sie sich, nur fünfzig Meter und ein paar Stahltüren entfernt von den Mördern, Vergewaltigern, Dieben, Dealern, Räubern und Schlägern. Nur fünfzig Meter trennten die Hüter des Gesetzes von dem grauen Klotz, dem eisenbewehr-ten Bestiarium auf der anderen Straßenseite.
Die Flure der Staatsanwaltschaft waren ebenso leer wie die des Gerichts, das sie gerade verlassen hatte. Sie passierte die Schreibtische des Sekretariats ihrer Abteilung. Mit leisem Summen flackerten die Neonröhren auf, als die Bewegungsmelder sie erfassten, und beleuchteten ihr den Weg zu ihrem Büro. Auf Marisols Tisch stand ein kleines Foto von Manny Alvarez bei seiner Abschlußfeier der Polizei-adademie. Anscheinend hatte er noch nie Haare auf dem Kopf gehabt. Aus einem anderen Rahmen lächelte ihr Marisol selbst entgegen, divenhaft mit Federboa und allem Drum und Dran.
In ihrem Büro knipste sie das Licht an und setzte sich an den Schreibtisch. Vor ihr stapelten sich Post und Telefonnotizen.
Der Fall Morpheus war abgeschlossen, doch gelöst war er nicht, auch wenn Dominick und Manny und Andy Maus ihr was anderes einreden wollten.
Der Rest des Teams hatte zusammengepackt und sich neuen Fällen gewidmet – für sie war es noch nicht zu Ende. Man hatte ihr die Affen nicht ohne Grund geschickt, es war eine Botschaft. Es war die Botschaft von jemandem, der Bantling hinter Gittern sehen wollte. Der die Wahrheit über die Nacht am Causeway kannte. Der die Wahrheit über Cupido kannte.
Und dieser Jemand, fürchtete sie, war noch irgendwo da draußen.
Als sie eine dicke Akte vom Stapel nahm und überflog – es ging um ein Geständnis, dass zurück-genommen werden sollte –, piepte ihr Pager.
Erschrocken riss sie sich das Gerät vom Gürtel und warf es auf den Tisch. Das Display leuchtete im Dämmerlicht, mit jedem Piepen hüpfte der Pager über die Papiere.
Verdammt, das Ding trieb sie noch in den Wahnsinn. Sie hasste es. Zittrig strich sie sich das Haar aus dem Gesicht, dann nahm sie das Gerät in die Hand. Diese Woche hatte sie keine Bereitschaft, also musste es sich um einen Schusswechsel han-deln. Sie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern raste, und holte tief Luft. Dann wählte sie die Nummer. Schon nach dem ersten Klingeln bekam sie Antwort.
«Hier ist C. J. Townsend von der Staatsanwaltschaft. Ich wurde angepiept -»
«C. J.? Hier ist Chris, Chris Masterson.» Der Junge klang verstört. «Verdammt. Gut, dass ich Sie erreiche. Die Zentrale wollte Ihre Nummer nicht rausrücken, nur die
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