Morpheus #2
sie von ganz allein. Er ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken.
«Mein Gott, C. J. Was hast du nur getan?»
NEUNUNDDREISSIG
William Rupert Bantling, Häftling Nummer 578884526, Staatsgefängnis Florida, lag auf der dünnen Plastikmatratze und starrte die Blasen an der Decke an. Vor einer Weile war irgendein Genie bei der Gefängnisverwaltung, der Regierungsgelder zu verplempern hatte, auf die glorreiche Idee gekommen, die Betondecken, -wände und -böden der Vollzugsanstalt mattgrau streichen zu lassen. Vielleicht wollte er damit die vierundvierzig Todeskandidaten auf andere Gedanken bringen, die zweiundzwanzig Stunden jedes gottverdammten Tages allein in ihren fünf Quadratmetern hockten und ihre Abschiedsrede probten. Vielleicht half es sie zu beruhigen, wenn der Anwalt ihnen in einem letzten Telefongespräch riet, für nach 18.01 Uhr keine Pläne mehr zu machen. Doch die Luftfeuchtigkeit, die das Leben hier unerträglich machte, hatte die Farbe Blasen schlagen lassen, das Genie war entweder befördert oder gefeuert worden, und jetzt regnete es in jeder gottverdammten Nacht Flocken grauer Farbe auf Bill Bantling herunter.
Er hasste diese Zeit des Tages noch mehr als alle anderen Tageszeiten. Die Zeit, die er damit verbrachte, an die Decke zu starren, bis der untersetzte Wachmann mit Kontrollzwang vorzeitig das Licht löschte – wenn die Insassen mitten beim Lesen, Zähneputzen oder Scheißen waren – und anschlie-
ßend dümmlich kichernd «Licht aus!» brüllte, bevor er sich den nächsten Schokoriegel einverleibte. Jeder Vollidiot müsste inzwischen darauf vorbereitet sein, die Zahnbürste hingelegt, sein Geschäft eine Viertelstunde vorher erledigt haben, doch die Kerle hier waren eben keine normalen Vollidioten. Das hier war die Elite. Als Nächstes brach dann ein Geschrei los wie von wild gewordenen Affen, das sich zwanzig Minuten lang nicht beruhigte. Heute Abend würde ihn jedoch nichts aus der Ruhe bringen. Heute Abend verdarb nicht einmal der graue Regen von der Zimmerdecke das Lächeln, das Bill Bantlings schöngeschwungene Lippen zierte.
Er schloss die Augen und sah sie vor sich, ihr ehemals strahlendes Gesicht, direkt über seinem.
Das lange honigblonde Haar ringelte sich sanft über hohe Wangenknochen und braun gebrannte nackte Schultern. Rote volle Lippen, leicht geöffnet, selbst nach all den Jahren. Er hatte sie erobert, und sie hatte sich ihm hingegeben – in den schönen Augen war kein Zorn mehr, sondern Angst, salzige Tränen liefen über ihre wunderschönen Wangen in den sei-digen Slip, mit dem er ihr den roten Mund gestopft hatte.
Und dann hatte er sie noch einmal in seinen Händen gehabt. Hatte sie gehetzt, in die Enge getrieben, in Panik versetzt. Im Gerichtssaal, vor neunhundertzweiundneunzig Tagen, und er hatte in ihren Augen den gleichen Ausdruck gesehen wie damals. Zuerst den wilden Zorn, solange sie glaubte, sie könnte ihn schlagen, ihr Spiel mit ihm spielen, nur weil sie Staatsanwältin war und ganz oben saß, neben dem Richter, während er in einem roten Overall an den verdammten Tisch gekettet war. Und dann die Angst, als ihr endlich aufging, dass mehr als ein verdammter Titel dazu gehörte, um ihn fertig zu machen. Als ihr dämmerte, dass sie in den Albträumen nicht vor ihm fliehen konnte. Denn er war da, jede Nacht. Sie nahm ihn immer noch mit ins Bett. Und am Ende dieser Farce, die in der Öffentlichkeit als Prozess durchging, hatte er es wieder geschafft. Als sie mit verheulten Augen ins Gericht kam, mit tiefen Falten und dunklen Augenringen, und ihn nicht einmal mehr ansehen konnte. In dem Moment hatte er gewusst, dass er gewonnen hatte.
Und bald würde er noch einmal gewinnen. Das wusste er jetzt, und deshalb lächelte er. Er schloss die Faust um den Brief, der ihm ankündigte, dass er demnächst wieder einen Auftritt in ihren Albträumen hatte.
Es ist noch lange nicht vorbei. O nein. Es fängt gerade erst an, dachte er. Dann lächelte er wieder, der Wachmann rief: «Bereit machen!», und die langen Wimpern über ihm klimperten wieder, und die Flocken grauer Farbe, die auf ihn herabrieselten, fühlten sich an wie Tränen.
VIERZIG
Als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzte, sah C. J. hinaus in den trüben grauen Himmel und fragte sich, ob es schneien würde. Das wäre schlecht. Seit Jahren war sie nicht mehr bei Schnee Auto gefahren, erst recht nicht über verschneite Serpentinenstraßen.
Mit einem Dutzend Touristen, die mit Skiern und großen Reisetaschen
Weitere Kostenlose Bücher