Morpheus #2
Freund. Damals, als ihre größte Angst die vor dem Examen war. Damals, vor einer Ewigkeit, bevor William Bantling alles in ihrem Leben für immer geändert hatte.
Er hatte alles über sie gewusst, angefangen bei ihrer Lieblingsserie bis zu ihrem Lieblingsrestaurant.
Er wusste, wo ihre Eltern wohnten, wann sie das letzte Mal angerufen hatten, wann sie zu Besuch kamen, er kannte sogar den Spitznamen Beany, den ihr Vater ihr als Kind gegeben hatte, weil sie so gerne Jelly Beans genascht hatte. Er wusste alles über Michael, ihren «tollen» Exfreund, von den Ferien in Mexiko bis hin zu der Stellung, in der sie es in der letzten Nacht getrieben hatten. Er war in ihrer Wohnung gewesen, nicht nur in jener Nacht, sondern, wie sich später herausstellte, viele Male zuvor
– er hatte ihre Post gelesen, durch ihre Bücher und Fotoalben geblättert, ihre Kleider berührt, sich vielleicht sogar aus ihrem Kühlschrank bedient, aus ihrer Milchflasche getrunken. Er hatte sie verfolgt, belauert, und dann hatte er ihr ihre eigenen Geheimnisse ins Ohr geflüstert, sie mit kehligem Sing-sang wissen lassen, dass sie ihm vollkommen ausgeliefert war. Und von da an sollte es kein Entrinnen mehr geben, nicht einmal in ihren Träumen.
Alles hatte sie weggeworfen, alles, was sie an diese Nacht erinnern konnte, an diese Wohnung –von der Zahnbürste bis zu den Möbeln. Nichts von dem, was er möglicherweise angefasst, beschnüf-felt, befingert oder worauf er auch nur den Blick geworfen hatte, wollte sie je wieder sehen – niemals.
Sie hatte jahrelang gekämpft, die Vergangenheit zu vergessen und den Weg in eine Zukunft zu finden.
Bis heute.
Obwohl Bantling hinter Gittern und elektrischen Stacheldrahtzäunen saß, im Todestrakt auf sein letztes Telefongespräch wartete, hatte er es irgendwie geschafft, ihr eine Botschaft zu schicken.
Er war es, der damals in ihrer Wohnung gewesen war. Er hatte die Jade-Affen gesehen. Niemand sonst hätte davon wissen können oder von der Bedeutung, die sie für C. J. hatten. Es sei denn…
Es sei denn, er hat jemandem davon erzählt.
Ihr Herz hämmerte, sie fuhr sich durchs Haar und verscheuchte die Grübeleien, die sie wieder einmal um den Verstand zu bringen drohten. Die Staatsanwältin in ihrem Kopf schrie Fragen, wollte sie wachrütteln, bevor sie wieder in die alte Hilflosigkeit abglitt. Halt, halt… Wenn es Bantling ist, der das Päckchen geschickt hat, und er weiß von den Lü-
gen der Polizisten, die ihn in die Todeszelle gebracht haben, warum würde er die einzigen Menschen töten, die ihn womöglich retten konnten? Die glaubhaft machen konnten, dass er nicht Cupido war? Warum die einzigen Zeugen eliminieren?
Weil er krank und verrückt ist!, antwortete sie sich selbst, genauso laut wie die Staatsanwältin.
Weil es ihn aufgeilt, mich wissen zu lauen, dass er mich beobachtet, dass er weiß, was ich getan habe, dass ich nirgends vor ihm sicher bin. Ich bin die Nächste. Er tötet sie genau vor meiner Nase, damit ich den Verstand verliere…
«Nein, nein, nein.» Sie schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken rasten wie wild im Kreis.
Es sei denn, er hat jemandem davon erzählt…
Halt, halt, halt. Logisch vorgehen, C. J. wie bei anderen Fällen auch. Was, wenn das Gegenteil der Fall ist? Was, wenn jemand will, das Bantling niemals freikommt? Was, wenn jemand nicht will, dass herauskommt, dass Bantling gar nicht Cupido war?
Aber wer würde so etwas wollen? Wer, außer ihr, würde alles daransetzen, dass Bantling nie lebend aus der Todeszelle kam? Dass er für Verbrechen starb, die er nicht begangen hatte?
Die Antwort auf diese Frage jagte ihr noch mehr Angst ein als die Frage selbst.
ACHTUNDDREISSIG
«Es ist etwas passiert. Ich muss für eine Weile hier weg.»
«Das ist doch nicht dein Ernst, C. J. Was soll das, ist das ein Scherz?» Dominick stand im Wohnzimmer und starrte den Koffer an, der in der Mitte des Raums stand.
Sie lief im Zimmer auf und ab, als wollte sie bloß nicht stehen bleiben, deckte den Tisch ab und räumte auf. «Es ist kein Scherz, Dominick. Und es tut mir Leid. Gott, es tut mir so Leid. Ich will das nicht, hörst du, aber ich muss. Ich muss einfach.»
«Was zum Teufel ist passiert, C. J.?» Als sie an ihm vorbeigehen wollte, packte er sie am Arm.
«Was zum Teufel geht hier vor?»
Sie riss sich nicht los, doch sie sah ihn auch nicht an. Sie konnte nur flüstern. «Die Dinge haben sich geändert.»
«Was meinst du? Zwischen uns? Ich weiß, wir hatten beide
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