Morpheus #2
beladen waren, bestieg sie den Shuttlebus der Autovermietung: eine junge Familie, eine Gruppe von Freunden, ein verträumtes Liebespaar. Alle boten sie ein Bild des Glücks, voller Vorfreude auf das Schneevergnügen, das vor ihnen lag, wie aus dem Prospekt eines Reiseveran-stalters. Alle außer C. J. Sie hatte keine Skier, keinen dicken Anorak dabei, nur eine kleine Tasche mit einem Pullover, einer Jeans und einer Zahnbürste – dem Gepäck für eine Nacht.
Schon bevor sie das Ticket überhaupt gebucht hatte, hatte sie die Worte, die sie sagen würde, tausendmal geprobt. Und weitere tausendmal während des fünfstündigen Flugs. Und auch jede Minute der zweieinhalbstündigen Fahrt nach Breckenridge, einem kleinen Skiort in den Bergen, würde sie daran feilen. Aber was sie zu sagen hatte, klang immer noch nicht gut. Es würde wahrscheinlich nie gut klingen.
Sie hatte seit Rupert Bantlings Prozess vor drei Jahren nicht mehr mit Lourdes Rubio gesprochen.
Ihr Abschied nach der Urteilsverkündung war höflich, aber kalt gewesen, und kurze Zeit später hatte Lourdes ihre Kanzlei in Miami aufgegeben. Sie hatte die Koffer gepackt und ohne ein Wort des Abschieds die Stadt verlassen. Sie und C. J. hatten bereits früher bei Mordfällen zusammengearbeitet, und C. J. hatte Lourdes immer für sehr offen und integer gehalten. Ihre Meinung hatte sich zwangs-läufig geändert.
Manchmal in den vergangenen Jahren hatte C. J.
an Lourdes gedacht und sich gefragt, was wohl aus ihr geworden war, wo sie lebte und ob sie noch praktizierte, doch da hatte ihre Neugier auch schon aufgehört. Sie wusste, es würde nie ein herzliches Wiedersehen geben, sie würden sich nicht in die Arme fallen und sich über einem Glas Prosecco alles erzählen. Niemals. Und auch Lourdes wusste das. Das hatte sie deutlich gesagt, als sie in jenem Gerichtssaal das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Kurz nachdem Lourdes’ hysterisch schrei-ender, wild um sich tretender Mandant von drei Wachmännern aus dem Saal geschleppt wurde, um ins Staatsgefängnis in Raiford geschafft zu werden, wo der elektrische Stuhl auf ihn wartete.
C. J. nippte an ihrem Kaffee, wahrscheinlich dem zehnten an diesem Tag, und fuhr den Chevrolet Blazer vom Parkplatz in Richtung I70.
Er ist wieder da. Hol die Akten aus dem Archiv, denn er ist wieder da.
Es gab noch eine Person, die wusste, warum Victor Chavez Bantlings Jaguar in jener Nacht auf dem MacArthur Causeway angehalten hatte. Und sie lebte. C. J. wusste inzwischen, dass sie eine kleine Schuldrechts-Kanzlei in einer kleinen Stadt unterhielt, wo die meisten Menschen nur zum Ski-
fahren hinkamen und es nicht allzu schwer war, im touristischen Treiben unterzutauchen.
C. J. hatte ihr letztes Gespräch in dem verlassenen Gerichtssaal nicht vergessen, nachdem die Presse verschwunden war, der Richter wieder in seinem Amtszimmer und die Jury auf dem Weg nach Hause zu ihren Familien. Schließlich hatten sie einander unter vier Augen gegenübergestanden, nur von der leeren Galerie getrennt. C. J. hatte nicht vergessen, was sie gesagt hatten; sie hatte nur irgendwann den Deckel zugemacht und die Vergangenheit in ihrem Kopf ganz weit nach hinten geschoben, wo sie das Gesagte nie wieder zu hören hoffte.
C. J. schaltete den Scheibenwischer auf die schnellste Stufe, um gegen die schweren nassen Flocken auf ihrer Windschutzscheibe anzukommen, und stellte die Schweinwerfer an. Nach vielen Tele-fonaten und der ermüdenden Suche in diversen öffentlichen Verzeichnissen hatte sie Lourdes, die offensichtlich nicht gefunden werden wollte, schließlich doch aufgespürt. Über dreitausend Kilometer entfernt von den vertrauten Palmenstränden lebte sie in den Bergen und praktizierte auf einem Gebiet, das sie einst verachtet hatte. Irgendwann hatte C. J.
all ihren Mut zusammengenommen und Lourdes angerufen, um ihr zu sagen, dass sie sich treffen mussten. Und dann war etwas Merkwürdiges ge-schehen. Denn Lourdes schien weder sonderlich überrascht, C. J.s Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören, noch zögerte sie, als C. J. ein Treffen vorschlug. Sie stellte keine Fragen, sondern nannte ein Datum und gab C. J. die Wegbeschrei-
bung durch.
Das Gespräch dauerte kaum zwei Minuten, und nachdem C. J. aufgelegt hatte, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass irgendetwas an Lourdes’ Reaktion am Telefon nicht stimmte.
Es schien, als hätte Lourdes gewusst, dass C. J.
anrufen würde.
EINUNDVIERZIG
Wie in einem alten
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