Morpheus #2
Lebensmittelladen oder einer Änderungsschneiderei klingelte ein Glöckchen, als C. J. die Holztür mit dem Guckloch aufschob. Au-
ßen an der Tür des einstöckigen Gebäudes stand in schlichten goldenen Buchstaben der Namenszug L.
RUBIO, ESQ. So unauffällig, dass C. J. das Schild fast übersehen hätte; sie fragte sich, ob Lourdes überhaupt Mandanten haben wollte.
C. J. betrat die bescheidene Kanzlei, die in india-nischen Farben ausgestattet war – Türkis, Indigo, Kupfertöne –, und sah sich um. Ein großer handge-knüpfter Teppich schmückte die Wand über dem rustikalen Eichenschreibtisch, ein einfaches Regal mit den Gesetzbüchern von Colorado und Abhandlungen über Schadensersatz nahm die hintere Wand ein. Neben dem Wandteppich hingen Lourdes’ Zeugnis der Universität von Miami und ihre Zulassung für Colorado, doch nichts erinnerte an die langen Jahre, die sie als Strafverteidigerin in Miami tätig gewesen war, es gab nicht einmal einen Hinweis darauf, dass sie auch in Florida zugelassen war. Keine der vielen Urkunden und Plaketten, mit denen Lourdes ausgezeichnet worden war. Kein gerahmter Zeitungsartikel, kein Foto mit Senator Jeb Bush und anderen Spießgesellen, die sie mit Charme und Diplomatie für sich eingenommen hatte. Nichts. Nichts, außer einer geschnitzten Holz-maus, die grinsend neben ein paar Familienfotos kauerte.
Lourdes stand mit einer Tasse Kaffee in der Tür zum Hinterzimmer und beobachtete, wie C. J. sich umsah.
«Guten Tag, C. J.», sagte sie schließlich. C. J.
zuckte zusammen, als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Sie wandte sich von den Fotos ab und drehte sich um. Lourdes Rubio kam ihr nicht entgegen, sie beobachtete sie nur. In einem langen cremefarbenen Pullover, den sie zu Jeans und Stiefeln trug, hob sie sich kaum von den Wänden ab. Es hatte sich viel verändert seit den maßgeschneiderten Kostümen und Zehn-Zentimeter-Absätzen und der Kanzlei für dreißig Dollar den Quadratmeter im schicken Coral Gables.
«Guten Tag, Lourdes», antwortete C. J. mit belegter Stimme. «Schönes Büro haben Sie da.»
Smalltalk war reine Verschwendung. «Sie wissen vielleicht, warum ich hier bin», begann sie.
«Bill Bantling, schätze ich. Setzen Sie sich, C.
J.», sagte sie und kam rasch von der Tür an den Schreibtisch. Sie bedeutete C. J. sich in einen der beiden Sessel vor dem Tisch zu setzen.
C. J. nickte bedächtig. Die Ironie der Situation, hier vor der einst mächtigsten Strafverteidigerin in Miami im Mandantensessel Platz zu nehmen, entging ihr nicht.
«Warum sollten Sie sonst kommen? Ein anderes Thema haben wir ja wohl nicht, C. J.» Ihr Ton war bestimmt und kühl, als hätte sie seit Jahren darüber nachgedacht, was sie sagen würde, und jedes Mal, wenn sie vor dem Spiegel geübt hatte, war sie nur noch wütender geworden. Inzwischen klang selbst die Begrüßung wie ein Fauchen.
«Es ist etwas vorgefallen», sagte C. J. langsam.
«Ist Bill schon tot?», erwiderte Lourdes bitter.
«Wir müssen da anscheinend was klären.»
«Es gibt eine Grenze, C. J.», sagte Lourdes.
«Und die haben Sie übertreten.»
«Und wer zieht diese Grenze, Lourdes? Wer?»
Jetzt wurde auch C. J. wütend. «Wir haben alle unsere Arbeit getan. Jeder Einzelne von uns. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft. Er hatte eine gute Verteidigung.»
«Blödsinn. Er hatte nie eine Chance. Ich habe ihn fallen lassen. Ich habe versagt. Und damit muss ich leben, Tag für Tag.»
«So funktioniert das System. Die Schuldigen müssen für ihre Verbrechen zahlen.»
«Er zahlt für die Verbrechen eines anderen.»
«Als wären seine Verbrechen nicht Grund genug? Sie sitzen hier, Lourdes, und machen sich Vorwürfe. Aber für wen? Für einen Mann, der vierzehn Frauen rund um den Globus auf brutalste Art vergewaltigt hat, und wahrscheinlich noch mehr.
Nicht nur vergewaltigt – sondern gefoltert, verstümmelt, halb umgebracht. Für einen Mann, der seiner eigenen Anwältin das Gleiche antun würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Heben Sie sich Ihre Schuldgefühle für jemanden auf, der es verdient.»
«Er ist zum Tode verurteilt worden, C. J. Er wird sterben. Ein Mensch wird für etwas sterben, das er nicht getan hat. Ist Ihnen das völlig egal?»
C. J. schwieg einen Moment. Dann sagte sie leise: «Ich habe meine Arbeit getan, Lourdes. Er hätte inzwischen weitere Frauen vergewaltigt. Drei, vier, vielleicht mehr, wenn er rausgekommen wäre. Viel-
leicht hätte er die Frauen auch
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