Morpheus #2
verrichtete seinen Dienst seit über dreißig Jahren, und irgendwann war ihm die Höflichkeit ab-handen gekommen. Er behandelte alle Menschen gleich. Gleich unhöflich.
Der Richter warf einen Blick auf die Uhr, dann auf C. J. die noch nicht an ihrem Platz saß. Schweigend wartete er, bis sie an der Richterbank vorbei zum Tisch der Staatsanwaltschaft gehastet war, wo Rose Harris bereits saß.
Er sah zu, wie sie sich setzte und die Akten aus-
packte. Es war still im Raum, jeder war gespannt darauf, ob der Richter sie zur Eile antreiben würde.
Sie hörte die genervten Seufzer in den Bankreihen hinter sich, als hätte sie die Zuschauer bereits Stunden warten lassen. Rose tippte mit dem Stift auf den Tisch, wofür C. J. sie am liebsten erwürgt hätte.
Wie ist es bloß so weit gekommen? Dass ich die Außenseiterin bin, die keiner leiden kann? Neben der keiner sitzen will? Sie und Rose waren vielleicht nie beste Freundinnen gewesen, aber sie hatten einander respektiert. Vor Richter Chaskel hatte C. J.
tausendmal gestanden, er hatte sie immer gemocht
– dachte sie zumindest –, und es hatte ihn nie gestört, wenn sie ein paar Minuten zu spät war. Jetzt warf er ihr von der Richterbank böse Blicke zu. War sie überempfindlich, oder hatte sich das Blatt gewendet?
Den Kopf tief in die Aktenkartons versenkt, hatte sie Bantling noch nicht ansehen müssen, doch sie konnte sein Grinsen spüren. Sein innerliches Grinsen, nach außen zeigte er wahrscheinlich eine mit-leiderregende Leidensmiene. Helft mir! Man hat mich in eine Falle gelockt! Für die Presse, den Richter, seinen Anwalt, die Zuschauer.
«Entschuldigen Sie bitte, Herr Richter», sagte C.
J.
«Ist die Staatsanwaltschaft jetzt so weit?», fragte der Richter.
«Ja, Euer Ehren», sagte Rose.
«Ja, Herr Richter», flüsterte C. J.
Ein wenig hätte sie noch warten können. Warten, bis Bantling in den Zeugenstand trat, warten, bis sie ihn ansehen musste. Doch sie wartete nicht.
Aus tiefstem Herzen hatte sie gehofft, einen he-runtergekommenen, deutlich gealterten Mann zu sehen, einen Mann, der am Ende war. Sie hatte vergebens gehofft.
Die kalten blauen Augen warteten schon, als sie ihn ansah. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen. Er war blass, doch weder schien er gealtert noch in irgendeiner Weise zermürbt. Die Stirn in die Hand gestützt, grinste er sie an, ohne dass der Richter und die Kameras es sehen konnten. Lautlos richtete er die Worte an sie, die ersten nach drei Jahren.
Da wären wir also wieder.
ZWEIUNDSECHZIG
Neil Mann war nervös. Seine Unterlippe zitterte, ein Tic, den er seit der Kindheit hatte. Einer der Gründe, warum er eigentlich nicht mehr vor Gericht arbeitete.
Doch er brauchte diesen Mandanten. Der Fall brachte nicht sonderlich viel Geld, aber Publicity.
Bill Bantling könnte für Neil Mann das sein, was William Kennedy Smith für seinen Kollegen Roy Black gewesen war: die Rakete in die Stratosphäre der Promi-Anwälte mit Stundenhonoraren von vierhundertfünfzig Dollar und Fernsehauftritten als Rechts-experte.
Allerdings drohte diesem Traum jetzt akute Gefahr.
Der Fall – der Fall seines Lebens – war ihm in den Schoß gefallen. Als Bills Brief eines Mittwochs im Postkasten lag, hatte Neil den Namen sofort erkannt. Dann hatte Bill ihm Rubios handschriftlichen Entschuldigungsbrief weitergeleitet. Danach wusste Neil, dass er für die heutige Anhörung in einen neuen Anzug investieren würde.
Er hatte mit Ms. Rubio telefoniert, und sie hatte ihm alles von dem Plausch erzählt, den sie mit einem betrunkenen, notgeilen Victor Chavez in einer Bar in South Beach geführt hatte, ungefähr eine Woche nachdem Bantling verhaftet worden war.
Victor hatte keine Ahnung gehabt, dass Lourdes Bantlings Anwältin war, als er ihr von dem anonymen Anruf erzählte, wonach Bantling angeblich Drogen in seinem Jaguar gehabt habe. Rubio be-
richtete Neil auch von dem Tonband und dass sie den Prozess letzten Endes absichtlich verloren habe. Natürlich schlug Mann vor, gen Westen zu fliegen und zu ihr in die Kanzlei zu kommen – das war das Naheliegendste –, doch sie lehnte ab. Und er wollte sie nicht drängen. Stattdessen bot sie ihm die eidesstattliche Versicherung an – notariell beglaubigt – und eine Kopie des Tonbands. Und versprach, zur Anhörung nach Miami zu kommen, wenn es so weit war. Auf eigenen Kosten, beharrte sie. Neil würde noch nicht einmal zahlen müssen.
Ein Geschenk der Götter. Hatte er gedacht. Jetzt spielten ihm die
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