Morpheus #2
angefordert.»
Chaskels Miene gefror. «Das ist nicht Ihr Ernst, Mr. Mann. Das kann nicht Ihr Ernst sein. Ich leg mich krumm, um Ihrem Mandanten hier eine Beweisaufnahme zu ermöglichen, und das verfluchte Band, das den Stein ins Rollen gebracht hat, liegt gar nicht vor? Wie kann das sein?» Er wandte sich an Rose und C. J. «Meine Damen, Sie hatten Zugang zu Rubios Akten. Haben Sie das Band dort gefunden?»
«Das Tonband wurde nicht einmal erwähnt», meldete Rose.
C. J. rutschte das Herz in die Hose. «Nein, Herr Richter», sagte sie. «Kein Tonband bei den Akten.»
Soweit stimmte es sogar.
«Herrgott, was für eine Schlamperei», sagte der Richter. «Was soll ich bloß machen?» Er fuhr sich durchs Haar und seufzte tief. «Ich muss recherchie-ren. Das müssen wir alle. Morgen um neun will ich Sie alle wieder hier sehen, und diesmal möchte ich, dass wir uns an die Gesetze halten. Es geht hier um das Leben eines Mannes, und daher rate ich Ihnen allen, das Richtige zu tun.»
FÜNFUNDSECHZIG
Als C. J. wenig später die Straße überquerte, auf dem Weg zurück ins Büro, kannte sie alle schrecklichen Details. Inzwischen berichtete die Presse auf allen Kanälen, selbst Soaps und Quizshows wurden unterbrochen, um die Zuschauer auf dem Laufenden zu halten, und es begann der Wettlauf, wer die blutigen Tatortfotos zuerst ausstrahlte. Einige Sender hatten Lourdes’ Leiche aus Pietät unkenntlich gemacht oder zeigten nur das Blut auf dem Teppich. Anderen war die Quote wichtiger als die Moral, und allein das entfachte eine weitere Debatte, die wiederum mit den Fotos dokumentiert wurde.
Man hatte die Leiche am Freitagnachmittag entdeckt, nachdem Lourdes die ganze Woche nicht vor Gericht erschienen war. Nicht, dass ihr Fehlen ir-gendjemandem aufgefallen wäre, außer vielleicht ihren allein gelassenen Mandanten. Es war die Putzfrau, die die Leiche schließlich fand. Lourdes war an mehreren Stichwunden gestorben, Handtasche und Uhr waren verschwunden, außerdem hatte ihr der Täter Ohrringe und Ringe abgerissen. Offensichtlich war sie einem Raubüberfall zum Opfer gefallen. Zum letzten Mal lebend gesehen hatte sie ein Mandant am Freitagmorgen vor dem langen Wochenende in ihrer Kanzlei, kurz vor dem Schneesturm. Da die Leiche eine ganze Woche lang unentdeckt geblieben war, machte die eingesetzt habende Verwesung die Bestimmung des ge-nauen Todeszeitpunkts unmöglich. Im Hinblick auf ihr Fehlen vor Gericht ging man davon aus, dass sie irgendwann zwischen Freitagnachmittag und Dienstagmorgen gestorben war.
C. J. hatte Lourdes’ Kanzlei um 14.30 Uhr an jenem Freitag verlassen, als der Schneesturm gerade losbrach. Sie hatte noch in den Ohren, wie der Wind heulte, als hinter ihr die Tür zuschlug.
C. J. las sich den Bericht doppelt und dreifach durch, aber sie fühlte sich vollkommen taub. Sie wagte nicht zu denken. Sie stellte keine Fragen, telefonierte nicht. Sie wollte nicht noch mehr Informationen, doch als Staatsanwältin würde sie die bestimmt bekommen.
Bedeuteten «mehrere Stichwunden», dass man ihr die Kehle aufgeschlitzt hatte? Wurde der Zun-genmuskel bewegt, hatte der Mörder die kolumbianische Krawatte hinterlassen? Hatte man Fingerabdrücke, Faserspuren am Tatort gefunden? Wenn ja, waren C. J.s darunter? Gab es überhaupt Verdächtige? Gab es Zeugen vor Ort, Zeugen, die vielleicht gesehen hatten, wie eine dunkelblonde Frau in einem gemieteten Geländewagen den Tatort verließ?
Und jede Frage wurde von der unangenehmen Erkenntnis begleitet, dass sie selbst vielleicht die Antwort darauf war. Sie hatte niemand von dem Treffen mit Lourdes an jenem Nachmittag erzählt, von den heftigen Worten, die sie gewechselt hatten, vom Grund ihres Streits: William Bantling und der fragwürdige anonyme Tipp, der ihn hinter Gitter gebracht hatte. Ihr Schweigen musste nun ziemlich verdächtig wirken, wenn es herauskam. Andererseits war bereits verdächtig, dass sie in Lourdes’
Kanzlei gewesen war und dem Gericht nicht schon letzte Woche davon erzählt hatte. Verdächtig und wahrscheinlich unentschuldbar und nicht wieder gutzumachen. Alle Spuren führten zu ihr, und sie spürte, wie ihr das Atmen immer schwerer fiel.
Hinter verschlossenen Türen, bei abgestellten Telefonen, saß sie kopfschüttelnd am Tisch und begrub das Gesicht in den Händen.
Es gab keinen Zweifel mehr. Alle waren tot. Chavez, Lindeman, Ribero und jetzt auch Lourdes. Alle außer ihr. Sie war übrig. Die letzte Zeugin einer tödlichen Verschwörung,
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