Morphin
angeborene Güte immer wieder mal die Konfrontation mit der Welt einfach nicht aushält, nein, das ist seine eigene, innere Schwärze.
Natürlich denkst du das nicht in diesen Worten, weder in polnischen noch deutschen, und danach gefragt, würdest du all diese Emotionen bestreiten, reinsten Gewissens.
Wenn du, Dummerchen, wüsstest …
Es war der fünfte September, also vor über einem Monat. Warschau lebte noch, sie aber, Iga und Jacek, starben gerade.
Iga stand da mit einem Brief in der Hand. Der Brief war nicht an sie gerichtet. Niemals zuvor hatte sie einen Brief gelesen, der nicht an sie gerichtet war, so war sie nicht dressiert, dazu war sie unfähig, so wie sie in Gegenwart anderer nicht hätte defäkieren können. Diesen Brief jedoch hatte Jacek auf dem Sekretär im gemeinsamen Schlafzimmer liegenlassen. Offen, auf dem länglichen Umschlag, die cremeweißen Blätter zweifach gefaltet.
Die Anrede des Briefes begann: «Meine Liebe, mein Leben, mein Liebster …», und gerade eben war Igas zufälliger Blick darübergehuscht, hatte diese mit grüner Tinte geschriebenen Worte gestreift, als Igas Herz brach.
Der Krieg war verschwunden, auch die Panzergräben, die Flugabwehrgeschütze, die Drahtverhaue, die Panzerabwehrkanonen. Weg waren die deutschen Panzer und Aeroplane und die polnischen Panzer und Aeroplane, und weg waren die Namen der Generäle, all diese Rommel und Rómmle und Guderians und Śmigłys, alles verschwunden, Polen und Deutschland verschwunden.
Jacek badete gerade, Iga hörte das Wasser in die Wanne laufen, man lebte noch normal, wenn auch ein wenig anders, die letzten Tage eines normalen Lebens in Warschau, der Krieg grummelte am Horizont, und in diesem Augenblick verging die letzte Sekunde von Igas Leben. Sie sah, dass der Brief in einer schönen Handschrift und auf geschmackvollem Papier geschrieben war, griff danach und las ihn ganz, dahinsterbend mit jedem Satz, den die verliebte junge Ärztin namens Trześniewska an Jacek geschrieben hatte. Den Nachnamen erfuhr Iga aus dem Brief nicht, nur ihren Vornamen, Adela, und aus dem, was sie dort über ihre Arbeit im Ujazdowski-Krankenhaus schrieb, konnte sie schließen, dass die Geliebte ihres Mannes Ärztin war, was Iga tief verletzte, hatten Igas Eltern ihr doch immer jegliches Studium ausreden wollen als etwas, das nur tauge für Mädchen aus eher absteigendem Hause, nicht für Iga, Spross einer glänzend prosperierenden Familie. Du bist schön, Töchterchen, und Papa hat eine gute Stellung, du brauchst nicht zu studieren. Das Studium ist was für Arme oder Hässliche.
Zutiefst verletzte Iga die ruhige, traurige Schönheit dieses Briefs einer verliebten Frau. Einer verliebten und verlassenen Frau, denn aus dem Brief ging hervor, dass Jacek die Beziehung zu ihr abgebrochen hatte, welcher Art dieses Verhältnis auch immer gewesen war. Wenn Jacek sich verliebt hatte, musste sie eine großartige Frau sein, denn er ist ein guter Mann. Dass sie nicht in der Lage war, Hass auf diese Adela zu empfinden, verletzte sie am allermeisten.
Nicht verletzte Iga, was sie nicht wusste: dass die junge Ärztin von Jacek schwanger ist, dass sie in sieben Monaten, im Mai 1940 , einen Jungen zur Welt bringen wird, der vaterlos aufwächst und seinen Vater nie kennenlernt, der ein berühmter Chirurg wird und einem Menschen das Herz herausnimmt, um es einem anderen einzupflanzen, und der dann stirbt, weil sein eigenes Herz bricht, als man seine Liebe zu Jungs öffentlich macht, eine Liebe, die trotz seiner siebzig Jahre immer noch lebendig ist, und ich, eine von mir, eine wie ich wird an seinem grauhaarigen, klugen Kopf knien und ihn streicheln, wenn seine Kreise auf dem Wasser vergehen.
Die Existenz von Jaceks Sohn, der niemals seinen Namen trägt, hätte Iga mehr verletzt als alles andere: Denn sie selbst hatte Jacek kein Kind schenken können, obwohl sie sich das so sehr wünscht. Doch davon wird Iga nie erfahren.
Und Iga war tief verletzt von Jaceks Sorglosigkeit, wie hatte er so einen Brief auf dem Sekretär liegenlassen können? Auf den Gedanken, dass es mehr gewesen sein könnte als Sorglosigkeit, dass er ertappt werden wollte, ohne es selbst recht zu wissen, kam sie gar nicht.
Iga legte den Liebesbrief auf die Schreibplatte zurück, griff nach Federhalter und Visitenkärtchen und schrieb in sorgfältigen Buchstaben, elegant wie immer:
«Mein Lieber, verzeih mir diese ungeheuerliche, einer Dame nicht würdige Indiskretion, jedoch kann ich nach der
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