Morphin
zurechtzukommen. Niemals merkt man ihm Unschlüssigkeit oder Verlegenheit an. Nur wenig macht so großen Eindruck auf die Menschen wie eine makellose, würdevolle Haltung.
Ich bekomme keine Luft, Iga lacht kristallen. «Lass mich gehen», singt das Warschauer Zarah-Leander-Imitat, oder ist es die Leander selbst, die singt?
Du schaust zur Bühne. Leander. Das ist sie. In Warschau? So kurz nach dem Krieg? Ist sie das? Sie oder nicht sie?
Der Vater verändert sich plötzlich. Er beginnt, Salomé über das Parkett zu führen, geleitet sie zu mir und Iga wie ein gewiefter Salonlöwe. Als wir ganz nah beieinander sind, flüstert er mir eine Adresse zu, Szucha sechzehn. Keine Erklärung, aber ich verstehe.
«Das Generalshaus?», wunderst du dich noch, bevor der Rhythmus des Tanzes euch trennt.
Iga lacht perlend. «Lass mich gehen.» Du willst fliehen.
Eine viel spätere Lektion. Die Rolle der Frau beim Ball ist passiv – sie wartet, bis sie zum Tanz aufgefordert wird. Unter keinen Umständen lässt der Tänzer seine Dame mitten im Saal stehen, immer führt er sie an ihren Platz zurück.
Ich reiße mich, winde mich aus Igas Armen.
Eine große Taktlosigkeit, Junge, Taktlosigkeit und Beweis für schlechte Erziehung ist es, in Gegenwart von Frauen zynische Gespräche zu führen oder Zweideutigkeiten zu äußern, selbst wenn es unbekannte Damen wären. Wer wirklich polnischen Geistes ist, führt dergleichen Gespräche nicht.
Was ist … zynisch? Wir sprechen hier Polnisch, Junge. Czym to są cyniczne rozmowy, pani Bielska? Was sind zynische Gespräche? Das wirst du zu gegebener Zeit erfahren. Zuerst einmal jedoch lernst du korrekt Polnisch sprechen. Auf dem Schreibtisch liegt das Lineal.
Ich drängle mich zwischen den Tanzenden hindurch, stoße Salomé an, remple einen Offizier in grauer Uniform, der – betrunken – mir etwas hinterherruft, sehr grob, ohne Rücksicht auf das an ihn geschmiegte Dämchen.
Ich erreiche die Tür, Treppe, Straße.
Dazu die Bielska: Seit Urzeiten waren die Polen bei anderen Völkern für ihre ritterliche Haltung gegenüber den Frauen berühmt. Wir können stolz auf diesen Ruf sein und sollten diesen Vorzug umso mehr in uns weiterentwickeln, als er uns über das Ausland erhebt.
«Lass mich, du alte Hexe!», schreist du, Kostek, presst die Hände an die Schläfen deines geplagten, schmerzenden Kopfes.
Betrachtet man dieses Publikum, so kann man unschwer feststellen, dass es in diesem Kreis keinen wahrhaft guterzogenen Menschen gibt, denn ein solcher würde sich niemals erlauben, die nationale Tradition zu verletzen, auch wenn er kein religiöser Mensch wäre, sagt Pani Bielska in meinem Kopf.
Woher kommt die jetzt? Sie war ja nun nicht der Fluch meiner Kindheit, ich hatte nur ein paar Lektionen bei ihr, sie hat mich nicht malträtiert, nicht gequält, seit Jahren habe ich nicht an sie gedacht, und jetzt ist sie da, quält mich plötzlich, ich höre ihre Stimme so deutlich, als würde sie diese Worte mitten in meinem Kopf sprechen. Ich renne.
Die Frau bietet dem Mann kein Foto von sich an, sofern sie keine engere Beziehung mit ihm pflegt.
Ich stolpere, stürze, ein Straßenloch, ein Bombentrichter, ich falle in den Schlamm, bin völlig verdreckt. Wenn wir in einer Sache, die Antwort verlangt, an Bekannte schreiben, gehört es sich nicht, eine Briefmarke für die Antwort beizulegen. Dies ist statthaft nur in der Korrespondenz mit Personen aus niederen Kreisen.
Ich rapple mich auf, zwei Bajonette blicken mir in die Augen.
Schreie auf Deutsch. Wem wirklich am polnischen Geist gelegen ist, der muss stolz sein auf die großen Errungenschaften unseres Vaterlandes. Gdynia ist der Stolz eines jeden Polen, sprich mir nach.
«Gdynia ist der Stolz jedes Polen», sage ich.
Die schwarzen Äuglein der Läufe mit den Bajonettspitzen, aus ungewohnter Perspektive. Dahinter dunkle Gestalten, Mäntel, Helme. Sie schreien auf Deutsch.
«Reserveleutnant Konstanty Willemann, Neuntes kleinpolnisches Ulanenregiment, melde gehorsamst.»
Sie schreien.
O Gott, das sind doch Deutsche!
Ich greife zum Halfter, kein Halfter da, ich muss es verloren haben, die Pistole zu verlieren ist eine Schande, eine große Schande, wenn auch meine private, nicht die Republik hat mir die Pistole gekauft, sondern ich mir selbst.
«Feuer!», rufe ich.
Der Zug schießt nicht. Vielleicht haben sie keine Munition. Wir werden zum Angriff übergehen.
Erreicht der Zug den Ort, von dem er den Angriff ausführen soll, gibt
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