Morphin
merkwürdig, Sie hier im Auto, vor den Augen der Deutschen. Oder?»
«Halt’s Maul, Frau. Mein Vater sagt, unter den Deutschen wird wenigstens Ordnung sein, anders als bei euch in diesem Scheißland», sagt der kleine Jud.
«Tut mir einen Gefallen und verpisst euch», erwiderst du, und das ist die richtige Antwort, mein Lieber.
Und ich gehe zum Auto zurück und bin ich selbst und fahre durch die Stadt und fahre wohin?
Wohin? Genau, wohin? Zu meiner Mutter, in den Klub? Was soll ich ihr sagen? Dass ich Papiere brauche, dass ich nach Budapest fahren muss, dass ich durchs Kriegsgebiet nicht allein mit der Kennkarte nach Budapest komme, dazu Dzidzia, Dzidzia muss ich auch noch mitnehmen, gibst du mir Papiere, Mutter, oder nicht?
Ein Lastwagen kommt die Straße heruntergefahren, auf der Ladefläche traurige deutsche Soldaten, Helme, Gewehre, Mäntel, traurig.
Dummkopf, verstehst du wirklich nicht? Nur sie kann dich vor der Langnasigen schützen. Nur sie, deine Mutter. Sobald sie davon erfährt, wird sie dich aus den Krallen dieser scheußlichen Frau erretten, die ich fürchte, denn diese schreckliche Frau kann dir die Freiheit geben, Kostek, das weißt du doch, die Freiheit. Verstehst du nicht? Die Freiheit, die du nicht willst, nicht brauchst, was fängst du mit ihr an?
Ich bin nicht ich, bei ihr fühle ich mich als jemand anders, nicht als ich, sondern als jemand Besseres, bei Dzidzia.
Ich kann nicht zu meiner Mutter fahren.
Du musst zu deiner Mutter fahren. Die Adlerin wird dich mit ihren Flügeln an ihre verdorrte und doch mütterliche Brust drücken, besänftigen und retten.
Ich fahre zum Vater. Zum Vater werde ich fahren.
Wo ist er? Wo bin ich?
Hier sind wir schon in Żoliborz, die Straßen deiner Kindheit, Kostek, die Villa deiner Mutter, dort entlang bist du immer zu ihr gefahren, du aber fährst vorbei an den Kindheitsstraßen, am Schulweg, Bücher auf dem Buckel, und weiter durch Marymont, Bielany.
Konstanty, was ist los mit dir, sage ich zu mir, mich sehe ich im Himmel und dich.
Was ist los mit mir.
Du hältst den Chevrolet an, rechts ein Wäldchen, die Marymoncka, und die ganze Stadt, wo ist die Stadt, wie bist du durch sie hindurchgefahren, warum weißt du es nicht mehr, und Rittmeister Chochoł ist wo, du hast ihn beinahe überfahren, die Menschen sind zusammengelaufen, in Motoków oder noch in der Innenstadt, war das die Puławska oder die Bonifraterska, wegen der vielen Juden kann es die Bonifraterska gewesen sein, im Nowy Świat gibt’s viele Juden, oder vielleicht neben den etwas zerbombten Simons-Passagen, aber dennoch, wo war das, nirgendwo, es war auf einer Straße, die es nicht gibt.
Du musst zu deiner Mutter fahren, Konstanty. Zum Deutschen Klub. Kehr um. Fahr. In die Fredro. Dort sitzt sie am Schreibtisch, in Uniform, den Füllfederhalter in der Hand, das Papier auf dem Tisch. Fahr. Die Mutter wird dich retten. Vor der langnasigen Rochacewicz. Vor dem aufgedunsenen Ingenieur, der Zahlen verwechselt. Schließlich vor dir selbst.
Fahr zu deiner Mutter, Konstanty.
Wo ist sie, im Deutschen Klub in der Fredro, in dem Klub, der den ganzen September geschlossen war und dann triumphal wiedereröffnet wurde, als die Zeit kam, und dort hat sie sich zum letzten Mal gehäutet. Sitzt hinter dem Schreibtisch, die Feder in der trockenen Hand, das glatte Papier auf dem Tisch, sie unterschreibt, trocknet ihren Namen mit dem Löschblatt. Die Haut, die sie im Krankenhaus in Rybnik angenommen hat, begann, in Schuppen abzufallen, als Baldur aus dem Krieg zurück war; jetzt ist die Häutung vollzogen, jetzt gibt es das Mädchen nicht mehr, das hinter den Gittern der Irrenanstalt in Rybnik den Doktor verführt, für sich und für ein Polen, das es auch nicht mehr gibt, das sich einem Polen hingibt, den es nicht gibt, aus Trotz, Bosheit und perfider Perversität und Wahnsinn, und das zwanzig Jahre in dieser Haut lebt, nun nicht mehr.
Du verstehst das nicht, Kostek. Weil du nicht verstehst, dass deine Mutter unter den verschiedenen Häuten sie selbst bleibt, dass sie nur ein anderes Gewand anlegt, das verstehst du nicht. Aber fahr zu ihr, dann wird sie dir das vielleicht offenbaren, mit ihrer Hilfe wirst du es verstehen.
Fahr.
Wo bin ich? Marymoncka, Bielany, Zentralinstitut für Körperertüchtigung. Es heißt jetzt Józef-Piłsudski-Akademie für Körperertüchtigung, letztes Jahr umbenannt. Das heißt, wie es heute tatsächlich heißt, weiß ich nicht, vermutlich nicht mehr nach Józef Piłsudski.
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