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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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was man eben in großer Überraschung so sagt. Dabei bin ich gar nicht überrascht. Mich wundert nichts. Ich traue meinen Augen sehr wohl. Der Welt traue ich nicht, meinen Augen schon. Sie haben viel gesehen und werden noch mehr sehen.
    Rittmeister Chochoł, Schwadron schwere MG . Wollte sich angeblich nach Süden absetzen, nicht die Waffen strecken. Mantel völlig verdreckt, straff zusammengehalten, aber nicht von einem Gürtel, sondern von einem karierten Schal, einem Seidenschal, gebunden wie ein Słuzker Gürtel, nur zu kurz. Auf dem Kopf eine Pappkrone, mit Stanniol umwickelt, zwischen den Zacken schon eingerissen. Am Mantel baumelt der Orden Virtuti, die Füße in Holzschuhen, gehüllt in etwas, das an dicke, wollene Fußlappen erinnert. Neben dem Virtuti zwei runde, silberne Medaillen: Ich sehe näher hin, als ich ihn in den Armen halte, das sind keine Medaillen, das ist eine Erkennungsmarke, eine polnische Erkennungsmarke an einem farbigen Band; das andere der Deckel einer Präservativdose aus Aluminium, deutsch. Hygienischer Gummischutz Dublosan, Berlin-Neukölln. Ein violettes Bändchen, darin verwickelt noch ein paar lange, gekringelte Haare, als wären sie mit dem Band vom Kopf des Mädchens gerissen worden.
    «Herr Rittmeister», sage ich sinnlos.
    Chochoł rückt die Stanniolkrone zurecht.
    «Ich heiße Jan Chochoł und bin …» Er hat vergessen, wie es weitergeht.
    «Alles in Ordnung mit Ihnen, Herr Rittmeister?», frage ich und bin mir der Absurdität dieser Frage bewusst.
    «Ich heiße Jan Chochoł und bin!», antwortet er, die Krone jetzt gerade auf dem Kopf, strahlend.
    «Ich muss gehen.»
    Ich versuche, ihn abzutasten, nachzusehen, ob er nicht blutet oder sich etwas gebrochen hat, da reißt er sich los, zieht ein Buch aus der Tasche, ich erkenne dieses Buch, der Roman mit dem Greisengesicht auf dem Umschlag, sein Roman, ein zerschlissenes, zerlesenes Exemplar, das Regiment war stolz darauf, dass Rittmeister Chochoł von der schweren MG -Schwadron ein Schriftsteller ist, Rój Verlag, 1937 .
    Er hält das Buch in der rechten Hand wie eine Waffe und zielt damit auf mich.
    «Keinen Schritt weiter, oder ich schieße», warnt er mit derselben Stimme, mit der er früher seine Maschinen angefaucht hat: Kurze Stöße – Feuer!
    Um uns herum ein immer weiter anwachsender Menschenauflauf, Passantenauflauf Menschen Passanten besiegte Warschauer und vielleicht nicht nur Warschauer, wer weiß.
    Ich weiß es.
    «Das ist ein Irrer», erklärt schlau eine Krämerin, nachdem sie zwei große Warentaschen auf dem entjungferten Pflaster abgesetzt hat.
    «Das ist ein polnischer Offizier», antworte ich. «Rittmeister des Neunten kleinpolnischen Ulanen-Regiments. Ich habe mit ihm gedient.»
    Der Auflauf verstummt. Die Krämerin. Ein Jude, sehr klein und hager, dafür aber recht hässlich und als wäre auch das noch nicht genug, mit Brille. Eine Madame mit zwei Broten in der Tasche. Ein Halbwüchsiger mit Radlermütze.
    Und ich sehe sie, Kostek, ich sehe, wie sie durch die engen Tunnel ihrer Mutterschöße ans Licht der Welt drängen und wie sie sich von dieser Welt durch andere Tunnel in die andere Welt, die des Todes drängen, und dich sehe ich und liebe dich, Kostek, und habe Angst, du könntest dich von mir abwenden, Kostek, und hätte so gern, dass ihr versteht, dass ihr alle wisst, dass ihr seid wie die Steine dieser Stadt, und wie die Spatzen und Tauben, kleine Steinchen in einem riesigen, tod- und blutschillernden Mosaik. Es gibt hier kein Wasser, hier ist nur Fels, Fels und kein Wasser und der sandige Weg und Berge und Felsen und kein Wasser, und unterwegs dürft ihr weder innehalten noch nachdenken, der Schweiß ist trocken und die Füße versunken im Sand, so ist die Welt, die ich durchmesse, das zweite Königreich des Todes, ein schläfriges Reich des Todes, ich bin die dritte, die euch nachgeht, wenn ihr nur zu zweit seid, ich gehe euch nach, über euch und in euch im trockenen Reich des Todes ich und meine schläfrigen Gefährtinnen. Nachtarbeiterinnen.
    Ich habe Angst, du könntest dich von mir abwenden, Kostek.
    Ich sehe Chochoł mit seiner Stanniolkrone, und Chochoł gehört mir nicht. Du aber bist mein.
    «Herr Rittmeister, kann ich Ihnen irgendwie helfen?», frage ich.
    Chochoł sieht mich aufmerksam an.
    «Leutnant Willemann. Ich erinnere mich, wir haben zusammen in der Kneipe in Trembowla gesessen …», antwortet er unerwartet nüchtern, abgesehen davon, dass ich nie mit Rittmeister Chochoł in

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