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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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romantisch verstaubte Pioniere der Moderne.
    Der Automobilclub ist nur ein kurzes Stück von hier. Ich könnte in den Automobilclub gehen. Mal hören, was es dort gibt.
    Aber ich gehe nicht in den Automobilclub.
    Ich gehe nicht ins Ministerium. Ich gehe ins Generalshaus, wo keine polnischen Generäle mehr sind auch keine Generalswitwen oder Ehefrauen, weder Töchter noch Söhne, Geliebte Dienstmädchen Lakaien Ordonnanzen Adjutanten Kammerdiener Kutscher Chauffeure Tanten. Aber vielleicht hängen dort noch irgendwo Uniformen im Schrank. Vielleicht.
    Vor den Türen ein Wachmann wie vor dem Ministerium.
    «Sie wünschen?», fragt er auf Deutsch.
    «Ich will zu …» Und plötzlich weißt du nicht, wie du ihn titulieren sollst. Welchen Rang hat er? Welchen könnte er haben? Vielleicht gar keinen? Wer ist er? Ist er überhaupt, ist er hier?
    Aber das hat er doch gesagt, im Adria: In der Szucha. Sechzehn.
    «Zu wem?», fragt der Wachmann.
    «Ich will zum Herrn Strachwitz.»
    «Und wer sind Sie?»
    Du ziehst die Papiere. Ziehst deine Kennkarte, der Wachmann mustert sie mit genauem Blick, faltet sie sorgfältig und reicht sie dir zurück.
    «Treppe hoch, dritter Stock.»
    Also steigst du hoch, und die Treppe hinunter tragen sie Walery Sławek mit einem Schussloch im Kopf, und das ist bestimmt eine Lösung, nicht wahr, Kostek? Aber wer weiß, vielleicht besser als das, was du hier vorhast, besser als das, was du jetzt werden willst, besser als dich von der eigenen Mutter abzuwenden, der Gipfel der Gemeinheit, sie hat dir doch das Leben geschenkt und die Erziehung, sie hat dich zu dem gemacht, der du bist.
    Zerrissen, wund, eine halbe Leiche – dazu hat meine Mutter mich gemacht, Mischling ohne Herz und Vaterland, ohne Seele im Leib oder mit zwei Mischlingsseelen, ein Bastard Findling Niemand.
    Und wer konnte ich sein, ich hätte jemand sein können, sie eine geblütige Deutsche, mein Vater ein geblütiger Deutscher, ich könnte das auch sein, wäre da nicht ihr Wahn gewesen und dieser verfluchte Psychiater, von dem sie erzählt hat, ohne mir auch nur ein Detail zu ersparen.
    Ich stehe vor der Tür, weiß nicht, ob ich klopfen soll. Ich klopfe nicht.
    Die Tür geht auf, dahinter mein Vater. Ich habe nicht geklopft.
    «Ich habe dich auf der Treppe gehört. Ich habe gehört, wie du geweint hast und mich und die Mutter gerufen hast.»
    Jetzt sagt er das, oder nicht jetzt. Damals sagte er das.
    «Ich habe dich auf der Treppe gehört, habe dich weinen gehört. Komm rein.»
    Jetzt sagt er das. Ich trete ein.
    Sein Gesicht. Kragenloses Hemd, die Manschetten aufgeknöpft, Hosen, Hosenträger, Latschen. Der Siegelring. Die Wohnung, ausgeräumt, leer wie ein Altar vor Ostern. Auf dem Stuhl im Schlafzimmer ein hoher Stapel grüner Uniformen, grün wie meine, Offiziersstiefel und Schuhe, Breeches und Chausseurs, sie haben sie nicht mitgenommen, und zwei Säbel in glänzenden Scheiden und Rogatywki-Mützen mit lackierten Schirmen.
    «Ein polnischer General hat hier gelebt», sagt mein Vater.
    «Ich weiß.»
    «Warst du im Krieg?»
    «In der Kavallerie. Ich war Unterleutnant im Neunten Regiment der Ulanen.»
    «Unterleutnant?», wundert sich mein Vater. «So etwas wie ein Fähnrich?»
    «Nein. So bezeichnet man im polnischen Heer den niedrigsten Offiziersrang. Podporucznik. Unterleutnant. Er entspricht unserem … eurem Leutnant».
    «Ich verstehe. Hast du gekämpft?»
    «Ja, bei den MG s. Sie haben mir eine Auszeichnung gegeben. Krzyż Walecznych. Das ist ein Verdienstkreuz.»
    «Ich weiß, was das bedeutet. Setz dich.»
    Wir setzen uns an den Tisch, mein Vater stellt Wodka und zwei Gläser hin, gießt ein bisschen ein, fingerhoch.
    «Hier gibt es überhaupt keine Schnapsgläser. Er war wohl Abstinenzler …»
    Ich nehme die Flasche, gieße mehr ein, halb, drei Viertel voll, obwohl ich doch heute schon getrunken habe, aber ich habe keine Erinnerung an diesen Alkohol, so als hätte es ihn nicht gegeben, also gieße ich mehr ein, halb, drei Viertel.
    «Gut, dass du gekommen bist.»
    «Papa, ich bin kein Deutscher.»
    «Ich weiß. Mich geht es überhaupt gar nichts an.»
    Wir sitzen, trinken Wodka. Mein Vater in kleinen Schlucken, schlürfend mit seinen kriegsgeschändeten Lippen.
    «Gut, dass du gekommen bist.»
    Ich schenke nach. Wir schweigen. Trinken. Ich schenke ein.
    «Ich habe die Staatsangehörigkeit des Reiches angenommen. Aber ich bin kein Deutscher. Ich arbeite für eine polnische … Organisation.»
    Der Vater nickt.
    «Gut,

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