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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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seine Narbe an meiner Wange. Er ist sehr jung und sehr alt zugleich.
    «Geh schon. Das reicht mir. Geh», flüstert er.
    Ich steige ins Auto, schlage die Tür zu. Das Päckchen mit der Uniform und der Waffe meines Vaters neben mir, auf dem Beifahrersitz. Er steht auf der Straße, in Hausschuhen, im kragenlosen Hemd, in Zivilhosen mit Hosenträgern. Winkt mir. Ich denke an seinen versehrten Schritt, an die schreckliche Verwüstung, die die leibliche Wunde in seiner Seele anrichten musste. Den Motor anlassen. Mein Vater dreht sich um und geht ins Generalshaus. Durch die Glastür sehe ich, wie er mit dem Wachmann redet, plaudert, der Wachmann straff wie eine Saite vor dem Herrn Offizier Kriegsveteran-Invaliden.
    Plötzlich kehrt er um, als wäre ihm etwas eingefallen, schaut durch die Tür und winkt mir, bedeutet mir, dass ich noch nicht fahren soll, warten soll, er habe da noch etwas. Er verschwindet, kommt gleich darauf mit einer Maschinenpistole heraus, nicht so einer, wie sie die deutschen Unteroffiziere im September hatten, sondern mit einem hölzernen Gewehrschaft, den Magazinschacht zur Seite gerichtet, nicht nach unten, mir sträuben sich die Haare, doch nein, ich sehe schon, er hält sie nicht wie zum Kampf, im Schacht ist kein Magazin. Ich steige aus, ohne den Motor auszuschalten.
    «Eine Maschinenpistole wirst du brauchen, mein Söhnchen. Dort, wo du hinfährst. Ich brauche sie nicht, weil ich hierbleibe.»
    Er reicht mir Waffe und Magazin im Lederfutteral. Lächelt mit einer Gesichtshälfte, legt mir noch einmal die Hand auf die Schulter, dreht sich um und geht. Hinter der Tür sagt er etwas zum Wachmann und verschwindet schließlich auf der Treppe.
    Und ich stehe dumm da, auf der Straße des vergewaltigten Warschau mit einer Maschinenpistole in der Hand. Öffne den Kofferraum, werfe alles hinein, schlage die Haube zu und steige ins Auto.
    Du sitzt darin bei laufendem Motor, Wellen der Übelkeit vom Wodka und dem leeren Magen, und was? Du wartest, betrunken.
    Worauf warte ich? Was wird passieren?
    Das weißt du doch. Du tust vor dir selber so, als wüsstest du nichts und verstündest nichts.
    Und er steigt die Treppen zu seiner nicht seiner Wohnung hoch, du sitzt im Chevrolet, der Motor läuft. Er geht in der Wohnung auf und ab, nervös und wie vor den Kopf geschlagen, weint, und drückt die Hand an seine Brust, als drückte er etwas ihm sehr Liebes; danach holt er Papiere aus dem Schreibtischfach, trägt sie in die Küche und zündet sie im Herd an, wühlt mit dem Ofenhaken in den Resten, das verbrannte Papier zerfällt zu Asche. Dann schaut er aus dem Fenster: Er sieht das Dach deines Chevrolets und lächelt, versteckt hinter der angegrauten Gardine. Sieht die Fassade des Ministeriums, in dem der Adjutant, der junge Feldpolizeisekretär Vanitschek, die Dokumentenstapel ausbreitet und das komplexe Netz des Archivs ordnet. Der Feldpolizeisekretär ist ein Landsmann von Baldur, er stammt aus Schlesien, aus einem kleinen Dorf bei Gleiwitz, dass immer Pilchowitz hieß, nur klang das zu slawisch, deshalb wurde es vor einigen Jahren in Bilchengrund umbenannt, als könnte dies rückwirkend die Tatsache ändern, dass es jahrhundertelang Pilchowitz hieß. «Feldpolizeisekretär Vanitschek spricht gut Polnisch, er ist intelligent, sehr systematisch, aber nicht besonders entscheidungsfreudig. Er stellt einen wichtigen Zugewinn für die geheime Feldpolizei dar, es empfiehlt sich, seine Kompetenzen zu fördern», hatte von Strachwitz im Personalbogen seines Untergebenen festgehalten. Feldpolizeisekretär Vanitschek hat ein Gesicht und einen Schwanz und alles andere.
    Feldpolizeisekretär Vanitschek wird in ein paar Jahren damit befasst sein, sowjetische Spione aus der dreckigen, oft schlitzäugigen Masse der östlichen Hilfswilligen herauszufischen, sehr viele davon wird er fangen, später wird er glücklich sogar das kompromittierende Monogramm GFP von den Schulterstücken losbekommen, ohne das gegenüber den Kameraden im Lager zuzugeben, er selbst wird aus diesem Lager fliehen. Dieses Lager wird sehr weit entfernt sein, in der Provinz Primorskij, und er wird durch die exotische Taiga gehen, mit großer Hoffnung: Die chinesische Grenze ist nicht weit, von China kommt er nach Hause, der Bürgerkrieg schreckt ihn nicht. Nach China aber kommt er gar nicht: Ein schwarzer Ussurischer Bär mit weißem Halbmond auf der Brust greift ihn an. Nicht sehr groß sind diese Bären, dieses Weibchen war von der Größe eines

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