Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
Vom Netzwerk:
erschaffen, dass er nichts ist als ein Stein, den die Strömung des Flusses rollt. Und er ist nichts anderes.
    Andere meinen, nur weil sie selbst den Tod fürchten, dürfe man auch dem Nächsten nicht antun, was einem selbst nicht lieb wäre; sie begreifen nicht, die Dummköpfe, dass die Angst vor dem eigenen Tod ein ebenso guter Grund ist zu töten wie jeder andere, ebenso gut wie das Fehlen eines Grundes.
    Wieder andere meinen, der Mensch sei ein Wert an sich; das ist er in der Tat, so wie die Bäume, die Eidechsen und der Kies in den Gebirgsbächen. Der Tod schmälert diesen Wert nicht und raubt ihn nicht, selbst wenn der letzte Mensch auf der Erde sich das Leben nähme, und dieser Augenblick wird ohne Zweifel kommen, die Himmel werden sich öffnen, und überhaupt nichts wird geschehen, nur die Denkmäler unseres Nichtseins werden auslüften, die Farbe wird abblättern von den Fassaden der großen amerikanischen Häuser in den Vorstädten Chicagos, die Lehmhäuser der Bantu werden zerfallen, und Schakale werden auf der Spanischen Treppe bellen und Tiger auf dem Roten Platz lungern, Löwen durchstreifen das hartlaubige Gesträuch, das Marseille überwuchert, und die Igel werden auf Birkenrinde Bücher über uns schreiben oder auch nicht, je nachdem, wonach ihr Igelsinn trachtet.
    So denken andere. Ich dagegen verstehe, dass einen Menschen zu erschießen nicht mehr wiegt als die Kugel, die Kanäle durch seinen Körper bohrt. Nicht mehr als ein Herz, das aufhört zu schlagen, und das Gehirn, das sich selbst nicht mehr spürt – mehr nicht, das ist alles. Nur der kleine Sieg dessen, der tötet, so alt wie der Mensch selbst.
    Und wer denkt das, ich denke das, Konstanty? Du, Konstanty, denkst das nicht, denke ich das also, deine stille, durchsichtige Gefährtin, die über dir schwebt wie die Qualle in der Meeresflut? Denke ich das, Baldur ohne Gesicht? Und wo bin ich jetzt?
    Ich denke das.
    Ich.
    «Erschieß ihn doch!», sagt Dzidzia.
    «Nicht nötig, gnädige Frau», erwidert der Pferdeführer hinter dem Baum. «Ich war sowieso schon so gut wie tot.»
    «Ich habe nicht die Absicht», sage ich, denn einen Menschen nicht zu erschießen ist genauso leicht wie es zu tun, also wirst du ihn nicht erschießen, hast du gesagt, mein Lieber.
    «Beerdige ihn», sage ich zum Pferdeführer, der keinen Namen hat.
    «Beerdigen hat keinen Sinn.»
    «Was ist mit diesen ermordeten Kriegsgefangenen?»
    «Nichts, gnädiger Herr. Ermordet oder nicht ermordet. Vergraben im Graben bei Dąbrowska Poręba oder nicht begraben. Verfault oder gar nicht zu faulen angefangen. So oder so.»
    «Wir gehen», befehle ich.
    «Gut, Konstanty», erwidert Dzidzia sanft und wird ganz weich, verliert plötzlich ihre kriegerische Amazonensteifheit, sogar ihre spitze Nase kommt mir jetzt runder vor.
    Ich packe das leere Maschinengewehr, und wir gehen zurück durch den Wald zum Auto.
    Am Auto, auf dem zur Seite geräumten gefällten Baum sitzt Orządała, an dem ich plötzlich keine Ähnlichkeit mehr mit Bociąga erkenne. Zwischen den Männern liegen kugellose Gewehre. Sie rauchen Zigaretten. Die Pferde rupfen am Oktobergras. Ich trete zwischen den Bäumen heraus, mit der Waffe in der Hand, aber du hast nicht auf sie gezielt, Kostek, ich habe nicht gezielt.
    Als sie uns sehen, stehen sie schwerfällig auf. Ziehen weiter gierig an ihren Zigaretten. Greifen nicht nach der Waffe, wozu auch, wenn du hier als Sieger ankommst. An meiner Seite eine Frau, die sie widerlich beschimpft hatten, die sie hatten entehren wollen. Woran denken sie?
    Ich sehe Dzidzia an. Sie versteht meine Frage ohne ein Wort. Winkt ab – und in dieser Geste liegen alle Jahrhunderte ihres aristokratischen Stammes, Generationen von Gouvernanten und Kindermädchen, die die kleinen Rochacewizcs mit Kinderstube traktierten. Dzidzia erlässt ihnen einfach jegliche Strafe, sie kann das.
    Und sie verstehen nach kurzer Anspannung, dass ihnen vergeben war, so wie man Hunden vergibt, dass sie beißen.
    «Was ist mit diesen ermordeten Kriegsgefangenen?», fragst du.
    Sie sehen sich an, geben keine Antwort, fragen aber auch nichts, weder nach den Schüssen, die sie gehört haben mussten, noch nach irgendwas anderem.
    «Wir müssen das überprüfen», sagt Konstanty zu Dzidzia. «Wozu?», wundert sie sich.
    «Für den Ingenieur. Er könnte das irgendwie nutzen, so eine Nachricht …»
    «Na dann sagen wir eben, dass sie wehrlos erschossen worden sind», lächelt sie.
    «Aber wir müssen doch wissen,

Weitere Kostenlose Bücher