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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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eine pfeilgerade Straße, dann Hals über Kopf hinab ins Tal der Kamienna, Czekarzewice, fast keine Menschen zu sehen, wegen dieses Oktoberschnees hat sich alles in die Häuser verzogen, die Straße wird für einen Moment geradezu gebirgig, die Brücke zum Glück unzerstört, also durchs Tal und wieder bergauf, ich fahre sehr schnell, gefährlich, aber ich fürchte, stecken zu bleiben, das wäre das Ende, man müsste ins Dorf, Pferde besorgen, und ich habe keine große Lust, durch den Schnee zu stapfen, also schnell, gefährlich, aber ich fahre gut, wir kommen aus dem Kamiennatal heraus, mein alter Olympia hätte das nicht geschafft, aber der Chevrolet mit seinen sechs Zylindern heult auf, und schon sind wir aus dem Tal.
    Ich heiße Konstanty Willemann und kann nicht viel mehr über mich sagen, als dass ich so eine absichtliche Verkleidung trage, Vogelscheuchengesteck, Rattenfell, Krähengefieder.
    Weiße Felder, gerade Straße, genug Benzin. Hinter Tarłów führt die Straße nach Ożarów pfeilgerade und Schnee, Oktoberschnee, weich, feucht und klebrig, die Scheibenwischer schieben ihn von der Frontscheibe, und wir fahren langsam, es wird immer dunkler, mit dreißig bis vierzig fahren wir in die Dämmerung, nicht schneller.
    «Wir müssen wohl irgendwo anhalten», sagt Konstanty, sage ich.
    «Fahr», sagt Dzidzia zur Scheibe. Nicht zu mir.
    Warum ist sie jetzt so, kalt und gleichgültig? So war sie doch nicht, als wir losfuhren. Spielt sie wieder die Erhabene, oder schweigt sie aus einem anderen Grund?
    «Es wird dunkel.»
    «Du hast Licht vorn, oder nicht?»
    «Aber irgendwann werden wir halten müssen.»
    «In Budapest.»
    «Du willst, dass ich bei diesem Wetter weiterfahre, auf solchen Straßen ohne Pause bis Budapest?»
    Dzidzia dreht sich zu mir, nicht bloß den Kopf, sondern ganz, auf ihrem schmalen Hintern dreht sie sich ganz mir zu. Ich sehe das nur im Augenwinkel, weil ich fahre, weil Schnee weil die Scheibe beschlägt trotz Ventilation weil rutschig weil dunkel, und sie gräbt in ihrer Tasche, zieht schließlich eine Phiole aus braunem Glas hervor.
    «Nimm zwei», sagt sie.
    «Was ist das?»
    «Isophan.»
    «Das heißt?» Ich habe nie davon gehört.
    «Wie Pervitin, nur gereinigt. Firma Knoll. Nimm. Ich werde auf der Rückbank ein Nickerchen halten, wir schaffen das. Nimm.»
    Ich nehme die Phiole. Darin Tabletten, flache weiße Drops. Kein Etikett.
    «Nimm», sagt Dzidzia. «Nimm zwei.»
    Mit dem Daumen drücke ich den Plastikkorken heraus, setze das Glas an die Lippen, zwei Tabletten rutschen in meinen Mund.
    «Zerbeiß sie, schluck sie zerkaut.»
    Ich zerbeiße sie, bitter, zermahle sie mit Zähnen und Zunge zu einem dicken, speichelfeuchten Staub, als würde ich Gips im Mund verrühren, und schlucke die nasse, schwere Masse dann hinunter.
    «Ich versuch zu schlafen», sagt Dzidzia. «Du fahr.»
    Und dann wird ihre Stimme weicher:
    «Fahr, bitte, Kostek, fahr.»
    «Aber wir haben nicht mal besprochen, welche Strecke, wo wir über die slowakische Grenze fahren, ob wir ganz direkt nach Ungarn fahren, ins Transkarpatische Ruthenien oder nach Uzhgorod … Nichts haben wir ausgemacht.»
    «Das ist unwichtig, Kostek. Fahr. Du findest schon hin.»
    Gerade weiße schwarze Straße schwarz weiß Nacht weiß weil Schnee schwarze weiße Straße. Ich spüre, wie der Schnee am Reifengummi haftet, spüre, wie er die Laufrillen verklebt. Gerade weiße schwarze Straße nach Ożarów.
    «Ich leg mich hin», sagt Dzidzia warm, klettert auf die Rückbank, streckt beim Rübersteigen den Hintern raus, deckt sich mit dem Mantel zu, ich sehe sie im Rückspiegel aus dem Augenwinkel, ich fahre, fahre.
    Ożarów.
    Eine Weile suche ich den Weg nach Opatów, will weiter nach Opatów fahren, finde eine Straße, halte sie für den Weg nach Opatów.
    Dzidzia schläft. Und ich denke an Jureczek: Als ich dich das erste Mal in den Armen hielt, warst du wenige Wochen alt, vorher wurde ich nicht zu dir gelassen. Hela hatte dich in der Villa meiner Mutter zur Welt gebracht, das Haus in der Madalińskiego stand noch nicht, auch das Mietshaus des alten Peszkowski in der Podwale nicht, wir fanden Unterschlupf bei meiner Mutter, und ich flüchtete erst vor deinem großen Bauch, Hela, denn mit diesem Bauch kamst du mir völlig fremd vor, später floh ich dann vor diesem Bündelchen in deinen Armen, denn ich wollte das nicht, hatte keinen Sinn dafür, fürchtete, der Beginn deines kleinen Lebens, mein Sohn, könnte mich bei meinem stürmischen,

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