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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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zweifach angeschossen, zu meinen Füßen, in meiner Gewalt, hilflos, voller Blut, und hat doch keine Angst vor mir. Womit soll ich ihm noch drohen?
    Du musst jetzt ein Deutscher sein, Konstanty. Um die Aktentasche zu finden, um dich als Pole zu bewähren, musst du jetzt Deutscher werden. Vertrau mir, Konstanty, ich bin deine einzige Freundin.
    Kajetan Tumanowicz liegt auf dem Boden, atmet schwer, versucht, nicht aufzustehen, hat keine Angst, erwartet nichts, wehrt sich nicht, wartet auf nichts. Liegt da und lacht.
    Sei ein Deutscher.
    Ich bin fünf Jahre alt. Mein Vater ist einundzwanzig und trägt eine graugrüne Uniform, zwei Knopfreihen, die quadratische Platte des Ulanen-Tschakos. Ich sitze auf seinen Knien, habe kurze Hosen an, neben meinen Knien der Messinggriff des Säbels.
    Mein Vater hat einen Zettel in der Hand, er liest mit ehrfürchtiger und zitternder Stimme ab:
    «Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China auf tausend Jahren durch euch in einer solchen Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!»
    Meine Mutter sieht uns gleichgültig zu, sie sitzt im Sessel, was geschieht da zwischen ihnen, zwischen meiner Mutter und meinem Vater, ist da Liebe zwischen ihnen?
    Und der Vater erklärt: «Vor vierzehn Jahren hat seine Kaiserliche Hoheit diese Rede gehalten. An Soldaten, die nach China zogen.»
    Weiß Konstantys Mutter, dass dieselben Worte, die sie jetzt angewidert mit anhört, auch ihr erster Geliebter Efik hörte, mit geschultertem Gewehr und Pickelhaube? Das weiß sie nicht, woher sollte sie auch, sie ist nur eine verrückte Kattowitzer Kleinbürgerin, die einen deutschen Aristokraten geheiratet hat, vierundzwanzig Jahre jünger als sie, und die dadurch einen Skandal von gesamtdeutschen Ausmaßen hervorgerufen hat.
    Sie weiß es also nicht, aber dieses Nichtwissen hat hier keine Bedeutung. Wichtig ist, dass diese Worte in ihren Ohren so klingen, wie sie in Efiks Ohren geklungen haben, und zwischen den Geliebten entsteht eine Verbindung, die weder Zeit noch Tod zerstören können, und jetzt klingen Kaiser Wilhelm und der junge Ulanenleutnant Strachwitz, der diese Worte sagt, mit Efik und Katarzyna Willemann in einem Akkord, der großen Terz der kaiserlichen Hunnenrede und des väterlichen Erziehungsakts. Konstanty weiß das auch nicht, er wusste es nicht damals auf den Knien des Vaters und weiß es heute nicht, über dem verwundeten Kajetan Tumanowicz stehend. Ich habe es ihm nicht gesagt und werde es ihm wohl auch nicht mehr sagen.
    Der Vater in grauer Uniform erklärt: «Kein Chinese soll es mehr wagen, einen Deutschen scheel anzusehen. Furcht und Entsetzen wollen wir in China hinterlassen. Hunnen sollen wir sein. Ich gehe, mein liebes Söhnchen, in den Krieg. Um der französischen Arroganz endlich ein Ende zu setzen. Damit sie für immer Angst vor uns haben, bis in alle Ewigkeit.»
    So musst du jetzt sein, Konstanty. Du erinnerst dich an die deutschen Worte des Vaters, aber du erinnerst dich auf Polnisch daran, obwohl dein Vater ja nie ein Wort Polnisch zu dir gesprochen hat. Aber du musst Deutscher sein, musst sein wie der deutsche Pilot, der aus dem Bord- MG auf kartoffelklaubende Frauen geschossen hat. Du selbst hast diese Frauen gesehen, durchsteppt von einer geraden, doppelten Naht von kleinen Kratern, der Kartoffelkorb auch durchsteppt und schon leer, denn andere Frauen haben die Ernte jener Durchgenähten schon in ihre Körbe geschüttet und die blutbespritzten, durchlöcherten Kartoffeln zurück in die Erde geworfen.
    Ein junges, heranwachsendes Mädchen sieht euch hasserfüllt an: die abgekämpfte Kolonne unterwegs im Warschauer Vorort, übermüdete, abgemagerte Pferde, erschöpfte Leute, viel erschöpfter als die Pferde, es sind gute, auf solche Märsche dressierte, für solche Märsche gedachte Militärpferde, das ganze Volk hat seit zwanzig Jahren auf solche Pferde hingezüchtet, und auf den Pferden Sattel und überflüssige Säbel unter den Sattelblättern, auf den Tatschankas schwere MG s, dann weiter die Radler, pferdegezogene Bofors, dritte Schwadron, vierte Schwadron, darin ich, wir sehen uns in die Augen, ich und dieses Mädchen über seiner erschossenen Mutter, und dieses Kind hasst mich mehr als jenen fliegenden Deutschen, der jetzt irgendwo weit weg auf dem Flughafen

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