Morphin
Gedanken lesen.
Vielleicht liest er sie, mein Lieber, Liebster, ich lese dich doch auch, wie ein Plakat an der Wand. Aber ich bin nicht aus Fleisch und Blut, ich weiß. Ich bin Atman, bin der Lebenshauch, bin Eva, Helena, Maria und Sofia und bin überhaupt nicht. Bin Luft.
«Herr Konstanty? Im Neunten, stimmt’s?»
Als läse er meine Gedanken.
«Entschuldigung, ja. Aber ich habe kein einziges Mal geschossen. Niemanden getötet. Deshalb weiß ich nicht, ob ich gekämpft habe», sage ich in einem Anfall naiver Aufrichtigkeit. Oder aufrichtiger Naivität. Obwohl ich ja annehme, dass ich getötet habe, einen zumindest. Warum lüge ich, sollte ich mich schämen dafür, dass ich getötet habe?
«Mein Herr, was sagen Sie! Ein Offizier ist nicht zum Schießen da! Das war doch ein Gemetzel bei euch! Und die Pistole hat der Offizier, um sich selbst die Kugel zu geben oder einen Deserteur zu erschießen, stimmt’s?»
Stimmt.
«Mein Herr! Geschossen haben Sie mit Ihren Ulanen! Mit Ihrem ganzen Zug!»
Sei’s drum. Ich schweige. Der Ingenieur schüttelt ungläubig den Kopf, na ja, da ist er ja an einen Simpel geraten, so ein Dummkopf, nicht gekämpft, als hieße kämpfen, den Abzug zu drücken. Und plötzlich wird mir klar: Der Ingenieur weiß über mich sogar, dass ich Zugführer war.
Und er beginnt wieder zu reden. Redet. Ich höre nicht zu, denke nach. Ich habe gekämpft.
Ich weiß es: Kampf heißt den Abzug drücken. Bajonett in die Eingeweide stoßen. Auge ausschälen. Das ist Kampf. Ich war Führer, habe Befehle von oben weitergegeben, Śmigłys und Rydzens Befehle, die über die Brigade liefen, über unser Regiment, unsere Schwadron bis zu meinem Zug, ich duckte mich unter den Kugeln, die Parabellum in der Hand oder um den Hals gebunden, Gefuchtel, der Säbel unter dem Sattelblatt, ja schon, aber habe ich gekämpft? Nein. Ich weiß es nicht.
Und er redet weiter: Von Warschau ist er nach der Kapitulation zu Kleeberg gelangt und hat dort eine Diversantengruppe befehligt, bewaffnet mit langen Panzergewehren, wie wir sie auch im Regiment hatten, und Kleeberg hat sie Musketiere getauft, nach diesen Gewehren.
Und jetzt organisiert er in Warschau. Empfehlungen hat er: von diesem und jenem, schüttelt die Namen aus dem Ärmel, manche kenne ich, andere nicht. Oberst Godlewski, der sich jetzt Suchodolski nennt. Pseudonym Buława. Er zählt auf, Gemeindienst, Botengänger, Agenten, Bolschewiken, Berlin, und ganz wichtig, Budapest.
«Budapest, mein Herr, ist am allerwichtigsten. Dort sitzt der Marschall, auf den wir bauen, wir werden ihn am Ende zu uns holen, nur müssen sich hier erst mal die Dinge beruhigen. Alles deutet auf ein gutes Ende, Autos haben wir zwei, ein grünes Chevrolet-Cabriolet und einen sehr schönen Opel Kapitän, grün.»
Ach, wie gern hätte ich so einen Opel gehabt, hatte sogar schon mit meiner Mutter darüber gesprochen, dass der Olympia zu eng ist. Der Kapitän ist stärker, schneller, moderner, selbsttragende Karosserie sowieso, windgängig wie der Luxtorpeda, modern wie die deutsche Autobahn. Später gefiel mir der Kapitän dann nicht mehr, besser schon ein Buick mit Karosserie von Lilpop, diese Buicks waren schwer in Mode. Doch dann kam der Krieg, und jetzt ist nicht mal mehr mein kleiner gelber Olympia da. Und der hier hat gleich zwei Autos, obwohl er vor einer Woche noch bei Kock geschossen hat.
Er redet die ganze Zeit, Deutsche, Sowjets, Engländer, lavieren, doch ich höre nicht zu, ich denke an Autos.
«Und so, hören Sie, werden wir uns repräsentieren – wenn wir erst den Krieg gewonnen haben!», verkündet er und zeigt an sich herunter. «Breeches, hohe Stiefel, Lederjacke und Halsharnisch nach einem Entwurf, den ich schon in Auftrag gegeben habe. Das wird unsere Uniform sein: der Kundschafter.»
Ein Spinner? Ich weiß es nicht.
Und als spüre er meine Zweifel, erzählt er weiter: wie er Gruppen losgeschickt habe, um Waffen zu sammeln – an der Bzura und bei Kock liegen noch Gewehre und Waffen in den Wäldern, sie sammeln das ein, konservieren und vergraben es. Damit wird auf die Deutschen geschossen, wenn die Zeit reif ist, auf dem Feldflughafen haben sie ein Flugzeug gefunden, es zerlegt und in der Scheune versteckt, aber ja, wirklich! Die Kontakte mit der polnischen und der deutschen Polizei sind sehr gut, alles prima, besonders die Kontakte mit den Deutschen werden gepflegt, ohne das läuft gar nichts.
«Schauen Sie mal her!»
Er greift in die Tasche und reicht mir ein
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