Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
Vom Netzwerk:
Straße ist leer. Ein deutsches Auto. Deutsche Patrouille.
    «Halt!»
    Und was jetzt, Kostek, was jetzt? Ich habe dir gesagt: Wirf sie weg!
    «Halt?», frage ich wütend und drehe mich um: «Halt?»
    Ich gehe in ihre Richtung. Zwei Jungs, nicht älter als zwanzig, Helme, Mäntel, über die der Regen rinnt.
    Die Gewehre fliegen von den Schultern, die braven Soldaten kämpfen mit den Verschlüssen.
    Sie werden dich doch erschießen, Idiot, was tust du?
    Sollen sie schießen.
    «Halt!», brüllt der erschrockene kleine Soldat. Ich sehe: Er würde schießen, wenn er älter wäre und klüger, wenn er mehr Lebenserfahrung hätte. Schießen würde er auch, wenn er jünger wäre, dümmer, wenn er weniger Lebenserfahrung hätte. Doch er ist gerade dumm genug und hat gerade so viel Lebenserfahrung, dass er nicht schießt.
    Warum?
    «Halt lieber deine Schnauze, du Drecksack!», rate ich ihm wütend. «Ich bin Deutscher!»
    Aber nein, nein, das kann nicht gutgehen. Nicht das zweite, dritte, vierte Mal, nicht diesmal. Die Gewehre wandern auf die Arme, sie werden nicht schießen, aber locker lassen sie auch nicht. Der eine zielt mit dem schwarzen Auge des Laufs und der spitzen Zunge des Bajonetts auf mich, der andere kommt langsam näher, verlangt die Papiere, höflich, aber entschieden:
    «Sie sind Deutscher? Dann zeigen Sie bitte Ihre Kennkarte.»
    Natürlich habe ich keine Kennkarte, aber ich weiß, was das ist. Die Deutschen aus dem Reich haben so etwas seit einem Jahr, im Regiment wurde uns das bei der Mobilmachung erklärt, falls wir einmal mit deutschen Zivilisten zu tun bekämen. Guter Witz. Aber ich bin kein Deutscher, ich bin Konstanty Willemann und habe nur einen polnischen Pass, sonst nichts.
    Aber er irrt sich, wenn er glaubt, Konstanty Willemann mit polnischem Pass und sonst nichts zu sein: Er hat noch das Todesurteil in der Tasche und seinen nicht registrierten Offiziersrang.
    «Ja, natürlich», sagt er und greift unter die Achsel, als wollte er die Brieftasche ziehen.
    «Jetzt», schreie ich ihm ins Ohr.
    Und plötzlich greift er nach dem deutschen Soldaten und stößt ihn mit aller Kraft gegen den anderen. Der hebt seine Waffe mit dem Bajonett in die Höhe, damit er den Kameraden nicht aufspießt.
    Und Konstanty läuft weg.
    Sie schießen ihm nach, einmal und noch einmal, aber Konstanty läuft, und ich trage ihn, bewege seine Arme, Schenkel und Knie, stütze sein Kreuz, ich führe ihn. Sie schießen ihm nach, treffen nicht, laufen, schießen, treffen nicht, geben es auf.
    Ich schwimme. Schwimme durch die Straßen, wanke auf den Wogen des Atems.
    Die Warschauer Filteranlagen. Die Koszykowa. Statt ganz normal die Polna entlang gehe ich in die Szucha. Deutsche Flaggen hängen in der Dämmerung schlaff an unseren Ministerien. Da treibt sich tagsüber Deutschvolk herum, aber jetzt ist es Nacht, und ich schwimme. Straße des 6 . August und ich erreiche den Hafen, bin ich gelaufen oder gegangen?
    Erlöserplatz. Das Hemd klebt am Rücken, der Schweiß läuft über die Rippen, im wunden Gesicht pocht der Herzschlag. Aber ich bin da, bin gerannt, und niemand ist mir nachgelaufen. Der Tweed ist völlig durchnässt.
    Ecke 6 . August. Ich schaue auf die Uhr: Beinahe fünf Uhr morgens. Vierzehnter Oktober. Der Eingang zum Mietshaus ist verrammelt. Was hatte ich erwartet? Ich gucke nach oben: Parterre und vier Fensterreihen, darüber schwarzer Himmel und Regen, der mir in die Augen fällt.
    Wie komme ich da rein, ich kann hier ja nicht den Deutschen spielen.
    Ich hämmere gegen die Tür. Kurz darauf geht ein Spalt auf, der Hauswart steckt seine pockennarbige Fresse raus.
    Ich gebe ihm zehn Złoty. Er lässt mich ein.
    Die Treppe nach oben, schon stehe ich vor der Tür, hinter der man auf mein Paket wartete.
    Ich klopfe dreimal, Pause, dann viermal. Auf dem Treppenabsatz brennt Licht. Nach einigen Minuten öffnet sich die Tür wie das Tor zu einer anderen Welt, ich erkenne im Dunkeln ein Augenpaar.
    Ich muss nicht sehr vertrauenerweckend aussehen, wundgeschlagen, nass, etwas blutverschmiert.
    «Ja, bitte?», fragt die Dunkelheit.
    Ich zögere.
    «Ich bringe das Paket …»
    «Hören Sie, wir brauchen hier keine Pakete», antwortet die helläugige Dunkelheit entschieden und brüsk.
    «Ist das nicht die Wohnung von Frau Łubieńska?», frage ich, verwirrt.
    «Was geht Sie denn das an? Verschwinden Sie, Herr!», sagt die Dunkelheit sehr laut, fast schreiend.
    Und dann flüstert es aus dieser helläugigen Dunkelheit, beinahe wie

Weitere Kostenlose Bücher