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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Knirpse vom Aufstand die deutschen Grenzschützer entwaffneten. Du sahst es ganz aus der Nähe: Zwei Jungs, nicht viel älter als du, zwei Jungs in engen Westen, zerrten an einem alten, grauschnäuzigen Opa mit Stahlhelm. Der Alte war wütend, du erkanntest, dass er sie am liebsten umgebracht hätte, denn für ihn waren sie bestimmt all das, was er hasste: die Polen, die Kommunisten, sogar die Pazifisten – obwohl die hier ihm ja das Gewehr nicht abnehmen wollten, um den Lauf zu verbiegen, sondern um damit zu schießen. Sie repräsentierten jene, die sich nicht fürchteten, an einem uniformierten Deutschen zu zerren, sie hatten keinen Respekt vor dieser Uniform, respektierten also weder den Staat noch den Kaiser noch sonst irgendetwas, das diesem grauschnäuzigen Opa teuer war. Wegen solcher Halunken hatten sie den Krieg verloren, hatten sie seit einer Woche eine republikanische Verfassung.
    Der Opa also hätte sie gern umgeknallt, hasste sie, aber er hatte Angst zu schießen. Und die Jungs nehmen ihm das Gewehr ab und hauen ihm den Kolben in den Bauch, auch für sie stehen diese Uniform und dieser Schnurrbart für all das, was sie verabscheuen: die Deutschen, die sie als schlesische Wilde behandeln, die nur zur Grubenarbeit taugen und sonst nichts. Die Herren, denen die Bergwerke gehören, die ihnen klägliche Tagelöhne zahlen und selbst Kaviar fressen und Sekt saufen. Obwohl der grauschnäuzige Opa eher keinen Kaviar isst.
    Sie reißen ihm die Ausrüstung vom Leib: den Gurt, die Patronentasche, den Helm. Der Alte kniet auf dem Pflaster, und mit ihm kniet das ganze wilhelminische Deutschland. Dann fiel der erste Schuss, weißt du noch, Kostek? Das war der erste Schuss, den du im Leben gehört hast, dieser Schuss in der Schulstraße in Szopienice. Bis heute weißt du nicht, wer damals geschossen hat – die Knirpse oder die Grenzschützer. Später hast du noch viele Schüsse gehört, auf Schießständen, bei der Jagd und im Krieg, aber das war der erste vor dem bislang letzten, mit dem du dem Tumanowicz ein Loch in den Kopf gemacht hast, in dem Haus an der Lesznostraße.
    Als dieser erste Schuss fiel, Kostek, da hat alles angefangen, angefangen zu schießen haben die anderen Grenzschützer, die noch nicht entwaffnet waren, haben die Jungs, die schon an Gewehre oder Nullachter gekommen waren, und da knallten ein paar Schüsse. Schreie: «Der Erich hot wos abkriegt!» Und du weißt bis heute nicht, ob da ein Grenzschützer schrie oder ein Aufständischer.
    Du hattest keinen Hauch von Zweifel, auf welcher Seite du warst. Oder besser, gegen wen du warst: gegen die graue Uniform, gegen den Stahlhelm und den grauen Schnauzer. Obwohl du wusstest, wusstest: So eine Uniform und so einen Helm trägt dein Vater. Den du doch liebtest, so wie jeder Zwölfjährige seinen Vater liebt.
    Dann stürzten schreiend die Mutter und die Cousine herein und rissen dich vom Fenster weg. Und was kannst du heute antworten, Kostek? Weißt du auch nur ein wenig mehr als damals, als du die ersten Schüsse auf der Schulstraße in Szopienice gehört hast?
    «Weiß ich nicht», erwidere ich dumpf und schaue in die Fensterscheibe.
    Witkowski klopft mir auf die Schultern.
    «Ich verstehe Sie gut, Herr Willemann. Es ist nicht einfach, mit alldem klarzukommen. Das ganze Land, zwanzig Jahre Arbeit in drei Wochen verschissen. Ich verstehe gut, dass Sie nicht wissen. Aber man muss sich zusammenreißen. Muss arbeiten!»
    Er wird nicht lockerlassen, das weiß ich.
    Denk nach, Kostek. Du kannst ja sagen – aber so, dass du deine Würde wahrst. Unwürdig möchte ich dich nicht haben.
    «Also gut. Unter einer Bedingung …», sage ich zu.
    «Die wäre?», strahlt Witkowski.
    «Die Frau meines besten Freundes ist verschollen. Ende September. Sie helfen mir, sie zu finden, und dann werde ich für Sie arbeiten.»
    Witkowski gibt mir einen Klaps auf den Rücken, nickt, ruft: «Abgemacht!» Und reicht mir die Hand, nachdem er symbolisch reingespuckt hat. Als hätte er mir gerade ein Pferd verkauft.
    Habe ich meine Würde gewahrt?
    Ich sehe auf die Uhr: halb sieben. Noch anderthalb Stunden bis zur Polizeistunde, ich fühle mich plötzlich furchtbar müde.
    «Wir kommen auf dieses Gespräch zurück», sage ich. «Jetzt gehe ich nach Hause.»
    Witkowski überlegt einen Augenblick, ohne mich loszulassen.
    «Gehen Sie. Noch werden Sie nicht gesucht, dafür hatten die noch zu wenig Zeit. Ein paar Tage können Sie zu Hause wohnen, dann ist damit Schluss,

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