Morphin
Dietrich», unterbreche ich ihn.
«Sepp Dietrich. Große Figur. Aber das ist jetzt unwichtig. Sie sind der Neffe eines wichtigen Offiziers der Panzerkräfte. Die Abwehr hat Sie in Hunderten von Unterlagen verzeichnet. Sobald die sich nach den momentanen Wirren besinnen, und das werden sie schneller, als Sie denken, werden sie nach Ihnen suchen», sagt er leise und führt mich am Ellbogen zu dem Fenster, das auf den Platz hinausgeht, dem einen Fenster, dessen Scheiben heil geblieben sind.
«Mein Vater ist tot», sage ich.
Witkowski verdreht ungeduldig die Augen, aber ich weiß nicht, was das bedeuten soll.
«Er ist am Annaberg gefallen», fahre ich fort. «Getötet von einer polnischen Kugel, im Kampf mit meinen Landsleuten.»
«Gut, gut, Herr Konstanty», unterbricht er mich. «Darum geht es nicht. Aber auch das hat Bedeutung. Und dieser Skandal um die Ehe Ihrer Mutter – bekannte Sache das, Sie sind kein Anonymus. Alter Adel, Uradel. Man hat Sie im Auge, Herr Willemann. Wird Sie suchen. Und finden. In der Stadt sind Sie nicht sicher.»
Ich zucke mit den Schultern.
«Wollen Sie ins Lager? Da hätten Sie gleich hinkönnen, Ihre Kameraden vom Neunten Ulanen sitzen bestimmt schon irgendwo ein. Ohne Grund sind Sie nicht verduftet.»
«Der Oberst hat gesagt, ich soll gehen», erwidere ich.
«Einfach so hat er Sie bestimmt nicht fortgeschickt. Er wusste, dass Sie gebraucht werden, Herr Willemann.»
Wir stehen am Fenster. Fast schon Tag. Der Erlöserplatz ist zum Teil schon geräumt, die leichenhaften Überreste eines verwüsteten Beetes in der Mitte, herausgerissene Pflastersteine, Bombentrichter, Drahtverhau, die Kirche ausgebrannt, einer der Türme liegt eingestürzt da wie ein großer, unförmiger Pferdekadaver. Viele von ihnen habe ich gesehen, zerschmettert, verkohlt auf der einen und verwesend auf der anderen Seite.
«Das ist Polen, Ingenieur.»
Er schweigt eine Weile, betrachtet das traurige Bild.
«Recht haben Sie. Und dieses Polen braucht Sie, Herr Willemann. Ich gebe Ihnen handfeste Papiere auf einen falschen Namen. Falls nötig, gibt es auch eine Sterbeurkunde von Konstanty Willemann, sogar die Leiche wird man finden können, und niemand wird Ihre Frau und Ihren Sohn belästigen.»
Jetzt schweige ich. Und er spricht weiter, mit einer Stimme leise und süß wie Karamell, gießt die Worte in mein Ohr, als fütterte er ein Haustier mit Leckerbissen: «Vor allem aber gebe ich Ihnen eine Aufgabe. Damit Sie sich nicht verlieren, damit Ihr Talent zu etwas Größerem beiträgt. Polen braucht Sie, Sie brauchen Polen.»
Das ganze Leben lang verlierst und verzettelst du dich, Kostek, das weißt du. Deine Bildchen, die niemand sehen will, nicht einmal du selbst, das Rumsitzen in den Cafés, die Affären – ein Seelenhobeln, du hobelst, die Späne fliegen, und deine Seele wird dünner.
Ich murmle etwas Undeutliches, schließlich kann ich nicht einfach so zusagen. Ich weiß selbst plötzlich nicht mehr, ob ich es ausschlagen soll. Ausschlagen kann.
Um das zu wissen, müsstest du wissen, wer du bist, Kostek. Ich werde dir das nicht sagen, ich weiß es selbst nicht, ich betrachte dich jetzt schon so lange, mein Lieber. Und sehe Chaos, einen grauen Fleck.
Weißt du noch, als du zwölf warst, bevor du mit deiner Mutter nach Warschau kamst? Ein paar Tage zuvor hattet ihr eine sehr entfernte Cousine mütterlicherseits besucht. Die beiden wussten selbst nicht genau, wie ihr verwandt oder verschwägert wart, und diese Frage bildete dann den Hauptgegenstand der Konversation.
Du solltest mit dem Sohn dieser Cousine spielen, ein kleiner, magerer Junge, der nur Deutsch sprach und eine Heidenangst vor dir hatte, denn er war jünger und schwächer, und du hattest deine Überlegenheit von Anfang an zeigen wollen, schon ein paar Jahre zuvor, noch während des Krieges, beim ersten Besuch, und hast ihn ein bisschen verprügelt und dann auch noch erniedrigt, indem du ihm die Hosen runtergezogen und ihm einen Tritt in den nackten Hintern versetzt hast.
Deshalb fragte er dich jetzt ängstlich, ob du irgendein Buch lesen möchtest, und du hast zurückgefaucht, wenn er Deutsch zu dir sprechen würde, gäbe es eins in die Fresse. Der Junge, Heinrich, sprach kein Polnisch, aber er verstand alles, setzte sich auf den Stuhl, starrte auf den Boden und saß da, voller Schrecken.
Und du standst am Fenster und hast rausgeguckt. Die Tante wohnte in einem Mietshaus an der Schulstraße, und du sahst, wie auf dieser Schulstraße die
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