Morphium
wäre, während ich fort war.«
»Und bevor Mr Roderick Welman hereinkam?«
»Ja.«
»Und auch er hätte ihn lesen können?«
Elinors Stimme klang verächtlich.
»Ich kann Ihnen versichern, Monsieur Poirot, dass ›mein Vetter‹, wie Sie ihn nennen, nicht die Briefe anderer Leute liest.«
»Das wird allgemein angenommen, ich weiß. Sie wären erstaunt, wie viele Leute Dinge tun, die ›man nicht tut‹.«
Elinor zuckte die Achseln, und Poirot bemerkte beiläufig:
»Kam Ihnen an jenem Tag zum ersten Mal der Gedanke, Mary Gerrard zu töten?«
Zum dritten Mal stieg das Blut Elinor Carlisle ins Gesicht. Diesmal war es eine brennende Flut. Sie murmelte:
»Hat Ihnen Peter Lord das gesagt?«
»Also damals, nicht wahr?«, sagte Poirot sanft. »Als Sie durch das Fenster blickten und sahen, wie sie ihr Testament machte. Es war damals – nicht? –, als Ihnen der Gedanke kam, wie komisch es wäre – und wie gelegen –, wenn Mary Gerrard zufällig sterben sollte.«
Elinor sagte mit leiser, halberstickter Stimme:
»Er wusste es – er sah mich an und wusste…«
»Dr. Lord weiß sehr viel… Er ist nicht dumm, der junge Mann mit dem sommersprossigen Gesicht und dem roten Haar…«
»Ist es wahr, dass er Sie schickte, um mir zu – helfen?«, fragte Elinor leise.
»Es ist wahr, Mademoiselle.«
Sie seufzte.
»Ich verstehe das nicht. Nein, ich verstehe es nicht.«
»Hören Sie zu, Miss Carlisle. Es ist notwendig, dass Sie mir genau sagen, was an dem Tag geschah, an dem Mary Gerrard starb; wohin Sie gingen, was Sie taten; mehr als das, ich will sogar wissen, was Sie dachten.«
Sie starrte ihn an. Dann trat langsam ein seltsames kleines Lächeln auf ihre Lippen.
»Sie müssen ein unglaublich argloser Mensch sein. Begreifen Sie nicht, wie leicht es für mich ist, Sie anzulügen?«
»Das macht nichts.«
Sie begriff nicht.
»Das macht nichts?«
»Nein. Denn Lügen, Mademoiselle, sagen dem Zuhörer genauso viel wie die Wahrheit. Manchmal sagen sie mehr. Also, fangen Sie an! Sie trafen Ihre Haushälterin, die gute Mrs Bishop. Sie wollte mit Ihnen kommen und Ihnen helfen. Sie wollten das nicht. Warum?«
»Ich wollte allein sein.«
»Warum?«
»Warum? Warum? Weil ich – weil ich denken wollte.«
»Sie wollten sich etwas vorstellen – ja. Und was taten Sie dann?«
Elinor sagte mit herausforderndem Kinn:
»Ich kaufte Paste für Sandwiches.«
»Zwei Gläser?«
»Zwei.«
»Und Sie gingen nach Hunterbury. Was taten Sie dort?«
»Ich ging hinauf in das Zimmer meiner Tante und begann ihre Sachen durchzusehen.«
»Was fanden Sie?«
»Was ich fand?« Sie zog die Brauen zusammen. »Kleider – alte Briefe – Fotografien – Schmuck.«
»Keine Geheimnisse?«
»Geheimnisse? Ich verstehe Sie nicht.«
»Fahren Sie also fort. Was dann?«
»Ich ging hinunter in den Anrichteraum und machte belegte Brote.«
Poirot sagte leise:
»Und Sie dachten – was?«
Ihre blauen Augen blitzten plötzlich.
»Ich dachte an meine Namensschwester. Eleanor von Aquitanien…«
»Ich verstehe vollkommen.«
»Ja?«
»O ja. Ich kenne die Geschichte. Sie ließ der schönen Rosamunde – so war es doch, nicht? – die Wahl zwischen einem Dolch und einem Becher Gift. Rosamunde wählte das Gift…«
Elinor sagte nichts. Sie war jetzt sehr blass.
»Nur«, meinte Poirot freundlich, »hätte es diesmal vielleicht keine Wahl gegeben… Fahren Sie fort, Mademoiselle, was dann?«
»Ich legte die fertigen Brote auf einen Teller und ging hinunter zum Pförtnerhaus. Schwester Hopkins war mit Mary dort. Ich sagte ihnen, ich hätte im Haus etwas zum Essen vorbereitet.«
Poirot beobachtete sie.
»Ja, und Sie gingen alle zusammen ins Haus, nicht wahr?«
»Ja. Wir – aßen die belegten Brote im Frühstückszimmer.«
Poirots Stimme war ganz leise.
»Ja, ja – noch immer im Traum… und dann…?«
»Dann?« Sie starrte ihn an. »Ich verließ sie – sie stand am Fenster. Ich ging in den Anrichteraum. Es war noch immer, wie Sie sagen – wie in einem Traum… Schwester Hopkins war dort und wusch ab… Ich gab ihr das Glas von der Paste.«
»Ja – ja. Und was geschah dann? Was dachten Sie dann?«
Elinor erzählte träumerisch:
»Am Handgelenk der Schwester war eine kleine Verletzung. Ich erwähnte es, und sie sagte, ein Dorn vom Rosenspalier am Pförtnerhaus habe sie verletzt. Die Rosen am Pförtnerhaus… Roddy und ich hatten einst einen Streit – vor langer Zeit – über den Krieg der Rosen. Ich war Lancaster und er war York. Er
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