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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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wischte mir das Blut aus dem Gesicht. In meiner linken Wange klaffte eine tiefe Wunde, die sich über die Nasenwurzel zur Stirn hochzog. Ich konnte mit meinen Fingerspitzen den blanken Knochen ertasten.
    »Glaubt ihr denn wirklich, ihr seid Kinder Gottes?«, ertönte die prophetische Stimme des Redners, laut und polternd und mit einem gewissen Akzent; vermutlich Portwein. »Halb Tier, halb Engel, und das Maß aller Dinge?«, pöbelte er. Es ließ sich nicht heraushören, ob er die Menschen oder die Chroner verspottete.
    Diesmal lief ich weiter, während ich ihn suchte, bemühte mich jedoch, im Kreis zu laufen. Der Aufseher ragte aus der Menge und beobachtete mein Treiben argwöhnisch. Während ich als blutender Trabant meine Runden um ihn zog, ließ er mich keine Sekunde aus den Augen – ein bösartiges, jähzorniges Gestirn inmitten schweigsamer Subordination.
    »He, du!«, maulte er über die Köpfe der Menge hinweg. »Was rennst du ständig im Kreis rum?«
    »Ich suche nach dem rechten Fluss«, rief ich zurück.
    Er reckte drohend die Rebasche, an der noch mein Blut klebte. »Beeil dich, Sportsfreund. Und beweg dich, beweg dich!«
    Linker Hand blitzte die auffällige Leuchtreklame eines Nachtlokals, dessen hoch aufragende Kuppel mit Antennen und Werbeslogans gespickt war. ›TEM-TEM‹ stand glühend über dem Eingangsportal, flackerte, erlosch, flammte erneut auf und leuchtete wieder für ein paar Sekunden. Vor der Kulisse, auf einem Dutzend im Rund aufgestellter Holzkisten, entdeckte ich endlich den Redner, eine kuriose Gestalt, die von Behälter zu Behälter sprang und sich dabei gehetzt nach allen Seiten umblickte. Er trug eine schwere Pharaonenrüstung, die einen Großteil seines Körpers bedeckte. Über die blaue Kriegskrone hatte er eine bizarre Maske gesetzt, deren Auswuchs mich zuerst an den Rüssel eines Ameisenbären erinnerte. Der Kopf des Redners wirkte dadurch um ein Vielfaches größer, als er in Wirklichkeit war. Seine Arme und Beine waren muskulös und von fast schwarzer Hautfarbe, was mich zuerst vermuten ließ, es handele sich um einen verkleideten Chroner. Allerdings sahen seine nackten Füße recht menschlich aus.
    Als ich näher kam, entpuppte der vermeintliche Rüssel sich als langer Ibis-Schnabel, der in Stirnhöhe aus der Maske wuchs. Die stilisierten goldenen Flügel des Vogels umgaben den Kopf des Redners wie schulterlanges Haupthaar. Während wir beide unsere Runden drehten, trafen sich unsere Blicke, und der Maskierte änderte abrupt seine Laufrichtung.
    »Du!«, erklang seine kräftige Stimme hinter der Maske. »Bist du auch auf der Suche nach einem Schild?«
    »Einem Schild? Nein!«, rief ich zurück.
    »Was suchst du dann?«
    »Sie!«
    Der Redner begann drei Runden lang zu lachen. »Mich?«, schnaufte er amüsiert. »Und dafür fast verrecken?«
    »Ich lebe ja noch.«
    »So, glaubst du?«
    Mühsam bahnte ich mir einen Weg zu ihm hinüber, lief neben ihm her und staunte, wie behände er trotz der schweren Rüstung von Kiste zu Kiste sprang. Ein mit dünnen Goldplatten bedeckter Brust- und Rückenpanzer und ein kurzer, geteilter Rock verhüllten seinen Körper. Die Harnische besaßen leuchtende Farben und kunstvolle altägyptische Verzierungen. Zum Schutz der Arme und Unterschenkel trug der Maskierte lederne, mit Metallspangen besetzte Arm- und Beinschienen. Vervollständigt wurde der bizarre Anblick durch große, bewegliche Schwingen, die zum Schutz der Schultern aufgeknüpft waren, und die das Gesicht verhüllende Ibis-Maske. Die gesamte Erscheinung krönte eine geflügelte Chepresch-Krone mit Schlangenornamenten.
    »Was glotzt du so?«, fuhr der Kostümierte mich an. »Willst du etwa Sex mit mir?«
    »Nein«, antwortete ich schnell. »Mich interessiert nur, wie Sie das vorhin gemeint haben.«
    »Was? Ob du ein Schild suchst? Alle rennen doch hier herum und suchen dergleichen. Sie sind ständig auf der Suche nach Schildern, die ihnen sagen, was sie tun sollen …«
    »Nein, das meinte ich nicht.«
    Der Redner wirkte erstaunt. »Nein? Oh … das ist schade.«
    »Das mit der Menschheit«, half ich ihm auf die Sprünge.
    »Ah, du willst doch Sex?« Seine Augen blitzten unter der Maske.
    »Nein, verdammt!«
    Der Kostümierte legte seine Hände trichterartig um den Vogelschnabel der Maske und brüllte, so laut er konnte, über die schweigende, wandelnde Masse hinweg: »Hört her, ihr Arschgesichter, er will keinen Sex!«
    Ich sah ihn erbost an. »Was soll das?«
    »Was das soll?« Er

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