Morphogenesis
deutete auf die Menge. »Sieh doch hin, es interessiert eh keinen …«
Ich schüttelte den Kopf. Das geronnene Blut bildete eine lästige Kruste um meinen Mund.
»Hat ganz schön draufgehauen, was?«, erkannte der Redner. Ich beschränkte meine Antwort auf ein Nicken. »Na, sei froh, dass er nur einen Sekundenzeiger hatte. Jüngst hat hier einer mutwillig ein Zeitmessgerät erschlagen, das sich dort drüben im Schatten niedergelassen hatte. Dummerweise war Kreuzbeißer mit seinem Gefolge in der Nähe …«
Ich hielt erschrocken inne. »Kreuzbeißer? Hier, in diesem Sektor?«
»Oh ja, oh ja. Zuerst hatte ich meinen Augen nicht getraut, als er auftauchte. Den Hitzkopf, der den Demogorgen erschlug, hat er mit seinem Stunder entzweigehackt. Hat ganz schön gespritzt, kann ich dir sagen! Ein lecker Fressen für die Temper …« Er lachte heiser, während ich mich vor Schmerzen zu krümmen begann.
»He, du, verdammt!«, schrie der Chroner, der mich schon die ganze Zeit auf dem Kieker hatte, und stapfte zähnefletschend herbei. »Das ist jetzt das zweite Mal! Ich werde eine Karteikarte von dir anlegen!«
Bevor er mich erreichte, begann ich, schmerzgebeugt und nach Luft schnappend, wieder zu laufen. Trotzdem war er schneller, hielt seine Rebasche wie eine Lanze vor sich und stach zu. Die gusseiserne Spitze bohrte sich in meinen Oberschenkel, der zweite Stoß traf meinen Rücken. Der dritte verfehlte mein Gesicht nur knapp und versank im Schädel eines Passanten. Der Pechvogel stieß einen röchelnden Schrei aus, verdrehte die Augen und sank zu Boden. Der Chroner machte ein dummes Gesicht, sah sich ratlos um und zog sein Instrument wieder aus dem Schädel hervor. Es gab ein trockenes Klacken, als die durchbohrte Stirn des Mannes auf das Kopfsteinpflaster schlug.
Ich indes stieg gepeinigt auf eine der Kisten und begann wie der Kostümierte im Kreis 2u laufen. Der Chroner putzte das Blut von seiner Zeigerspitze und blickte grimmig zu mir empor.
»Beweg dich, du destruktives Subjekt, beweg dich!«, bellte er. »Und wage es nicht noch einmal, in meiner Gegenwart zu verharren!«
Aus dem Boden um den Gestürzten quoll eine schwarze, ölige Brühe. Ich ahnte, was nun folgen würde, und beobachtete ebenso entsetzt wie fasziniert das Geschehen. Dicke, wurmartige Gebilde wuchsen aus dem Sud und begannen den Unglücklichen innerhalb von Sekunden zu zersetzen, das verflüssigte Gewebe aufzusaugen und zu verzehren. Ob Fleisch, Kleidung oder Knochen, alles löste sich unter den Mäulern der schwarzen Würmer auf. Zwölf von ihnen zählte ich. Sie waren augenlos und so dick wie menschliche Unterarme. Jeder von ihnen besaß eine andere Zeichnung auf seinem Leib. Ich erkannte rote Einser, gelbe Zweier, blaue Sechser, grüne Elfer, violette Siebener … Als hieratische Zahlzeichen glühten sie auf ihren Körperhüllen.
Alles ging blitzschnell, nach wenigen Sekunden war von ihrem Opfer nichts mehr übrig. Ich verfolgte den Vorgang mit Grausen. Unfreiwillig war ich Zeuge der Auflösung einer Stagnation geworden. Nun wusste ich, was die Temper waren.
Die vorbeiziehende Menschenherde warf nur flüchtige Blicke auf die Tragödie. Niemanden schien es zu berühren, dass er selbst eines Tages so enden könnte. Apathisch und gleichgültig trottete das Volk dahin, bemüht, Atemluft zu finden, keine Zeigerhiebe einzustecken und die Zeit am Fließen zu halten.
Meine Wunden machten mir zu schaffen. Ich biss die Zähne zusammen, strauchelte und wäre fast gestürzt, wenn mich der Kostümierte nicht rechtzeitig gestützt hätte. Der Chroner hingegen beobachtete zufrieden die Beseitigung seines Fauxpas und achtete nicht auf das Geschehen hinter sich. Ich dachte fieberhaft nach, während ich im stützenden Griff des Redners hing und bemüht war, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne neben die Kisten zu treten. Als das ölige Nährsekret der Temper langsam wieder im Boden versickerte, erreichte ich den Aufseher, hielt die Luft an und stieß das gesunde Bein mit aller Kraft in seinen bulligen Rücken. Der Chroner schrie überrascht auf, kippte nach vorn und stürzte in den schwarzen Brei. Sein Zeiger fiel zu Boden und schlitterte über das Kopfsteinpflaster.
Liegend strampelte und zappelte er mit den Beinen, während die wurmartigen Wesen lautlos wieder aus der Tiefe hervorwuchsen und den ihnen servierten Nachtisch zu vertilgen begannen. Nach einer Weile erlahmten die Bewegungen des Chroners. Luftblasen blubberten in Höhe seines Kopfes, dann
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