Morphogenesis
Brusttasche und hielt sie so, dass Ka das Bild erkennen konnte; einen fetten Körper, auf dessen Schlangenhals ein zu kleiner Kopf saß. Stumm betrachtete Ka die Arkana, die Schwingen, das Horn auf der Schnauze des Abbilds und die Schlange, die aus ihrem Bauchnabel gekrochen kam. Dann wirbelte er herum und stürzte aus dem Zimmer.
Jenseits der Pforte war der Raum mit den Türen verschwunden, ein langgezogener Flur hatte seinen Platz eingenommen. Ka sah sich gehetzt um, packte den Infusionsständer fester und rannte den Korridor hinab. Hinter ihm ertönten Rufe in arabischer Sprache, dazu hastende Schritte. »Bleiben Sie stehen!«, schrie jemand in gebrochenem Englisch.
Zweifellos befand er sich in einem ihm noch unbekannten Teil des Krankenhauses. Der Geruch, der Linoleumboden, das Dekor, nichts davon erkannte er während seines Spurts über den Flur.
Unmittelbar vor ihm wurde eine Zimmertür aufgestoßen. Ka hob schützend den freien Arm und stieß frontal mit ihr zusammen. Die Person auf der anderen Seite der Tür gab ein absonderliches Geräusch von sich und wurde in ihr Zimmer zurückkatapultiert. Ka taumelte, klatschte auf den Boden und rutschte meterweit, ohne den mitgerissenen Infusionsständer loszulassen. Der fast leere Beutel mit der grünen Flüssigkeit löste sich von seiner Halterung und geriet unter seinen Körper. Ka spürte einen stechenden Schmerz an seinem Unterarm, als die Plastikkanüle aus der Vene gerissen wurde. Ohne sich um die verlorene Medizin zu kümmern, kam Ka wieder auf die Beine und hetzte weiter, noch dichter von seinen Verfolgern bedrängt als zuvor.
»Bleiben Sie doch stehen!«, erscholl es wieder hinter ihm. »Sie laufen in eine Sackgasse!«
Der Unbekannte behielt Recht. Zwanzig Meter vor Ka endete der Korridor vor einer Doppeltür. Darüber leuchtete ein gelbes Schild mit der Ziffer 24993.
Ka beschleunigte seine Schritte, schloss die Augen und warf sich mit der Schulter gegen die Türblätter. Sie flogen zu beiden Seiten auf, und er stolperte in den dahinter liegenden Raum. Von einem aufflammenden Schmerz in der Schulter begleitet, stürzte er erneut zu Boden, mit einer Hand den verbliebenen Infusionsbeutel schützend. Ein Krachen ertönte hinter ihm, als habe ein kräftiger Windstoß die Türflügel wieder zugeschlagen, dann herrschte Stille.
Gehetzt sah Ka sich um, doch die Tür blieb geschlossen. Er vernahm nur das Klopfen seines Herzens und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Langsam entspannte er sich, schaute wieder nach vorne und blickte auf ein Paar weißer Schuhe.
»Respekt, Mister Ka«, erklang über ihm die Stimme von Schwester 26. »Ich habe noch nie erlebt, dass ein Patient es so eilig hatte, in Raum 24993 zurückzukehren.«
In meinem Mund befand sich ein harter, runder Gegenstand. Ich tastete ihn mit der Zunge ab; es war keine Gewehrkugel, sondern ein Stein. Kraftlos spuckte ich ihn aus, dann bewegte ich vorsichtig Arme und Beine. Als ich die Augen öffnete, erblickte ich eine Ebene aus Kieselsteinen. Ich drehte mich auf den Rücken, sah empor zur Mauerkrone. Fetzen meines Overalls hingen im Stacheldraht und flatterten im Wind.
Zum dritten Mal nach dem Angriff Ben Siras und meinem Sturz in den Pechsee hätte ich tot sein müssen – von Projektilen durchsiebt und die Knochen gebrochen vom Sturz. Doch abermals war ich erwacht …
Vielleicht haben die Soldaten mit Gummiprojektilen geschossen, Krispin.
Als ich meine Arme und Beine untersuchte, konnte ich keine der Wunden, die mir die Stacheldrahtdornen ins Fleisch gerissen hatten, entdecken. Sie waren verheilt, wie auch meine zu hundert Prozent tödliche Schusswunde im Hinterkopf. Welch wundersame Ärzte übten in dieser Stadt ihre Kunst aus? Mischten sie der Luft ein Gas bei, das die Zellen zwang, sich zu regenerieren? Oder beschossen sie die Verletzten mit heilenden Strahlen? War es überhaupt Fleisch und Blut, was das zerstörte Gewebe ersetzte?
War ich noch aus Fleisch und Blut?
Womöglich war die Stadt doch kein militärischer, sondern ein wissenschaftlicher Komplex, ein exorbitantes Ratte-im-Labyrinth-Experiment für ethische oder medizinische Forschungen. Was immer es auch war, es musste astronomische Summen an Betriebskosten verschlingen.
Vielleicht ist es aber doch die Hölle, Krispin. Gehinnom. Scheol. Das Inferno des 21. Jahrhunderts. Der Hades der Moderne. Die Betriebskosten zahlt der Teufel.
Ich erhob mich und robbte an den Rand des Daches. Versteckt hinter dem
Weitere Kostenlose Bücher