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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Multipliziert mit Eintausend wären das …
    Fast 42.000 Kilometer!
    Einmal um die Welt, Krispin!
    Ich schluckte. Das konnte der Chroner unmöglich ernst gemeint haben! Für diese Strecke bräuchte ich – falls ich mindestens vier Kilometer in der Stunde lief, was bedeuten würde: sechsundneunzig Kilometer am Tag, sofern ich vierundzwanzig Stunden durchlief – über vierzehn Monate!
     
    »Werft nie Engel weg!«, rief irgendjemand weit vor mir. »Man weiß nie, wozu man sie noch gebrauchen kann!«
    Ich reckte den Kopf, legte ein paar Meter zurück, ohne zu sehen, wohin ich trat, und rannte prompt meinem Vordermann in die Hacken. Der kam ins Straucheln und schrie erschrocken auf, was die in der Nähe postierten Aufseher sofort mit grimmigen Blicken quittierten. Ich packte den Mann an den Resten seines Hemdes und hielt in dadurch auf den Beinen. Statt sich zu bedanken, rammte er mir seinen Ellbogen in den Magen und verschwand im Gedränge.
    »Im Krieg gegen die Zeit gibt es neue Verluste!«, rief die Stimme, deren Ursprung ich inzwischen wesentlich näher gekommen war. »Entschuldigt, dass ich schreie, aber meine Zeitist kaputt. Ich bin herrenlos!«
    Ich wechselte im Zickzack die Straßenseiten und handelte mir dadurch die wildesten Beschimpfungen ein. Interessanterweise trafen mich alle Verwünschungen in der jeweiligen Muttersprache des Nörglers. Offensichtlich eignete sich Kobe nicht zum Fluchen. Wo aber steckte der Sprecher? Lief etwa nur ein Tonband, oder gar ein Radio?
    »Jeder Mensch ist ein Abgrund!«, erklang seine Stimme, »und muss überwunden werden!«
    Einen Moment lang blieb ich stehen und versuchte, den Redner zu erspähen. Der Schmerz begann verhalten, wurde rasch intensiver, und zu seinem Pulsieren gesellte sich ein unbarmherziger Zwang, der befahl: Geh weiter! Ich suchte den Sprecher, derweil der Schmerz meine Eingeweide zu zerreißen drohte. Davor also hatte mich Meliosch gewarnt, als er mir riet, niemals stehen zu bleiben: Zeit als organische Masse, gebildet von Menschen. Zwischen Vergangenheit und Zukunft zu verharren, bedeutet, schneller oder langsamer zu sterben, erinnerte ich mich an eine Inschrift aus dem Isis- Tempel in Assuan. Alles um mich herum befand sich in ständigem Fluss, wie ein gigantischer Stoffwechsel, ein fortwährender Strom aus drängenden, kreiselnden Leibern, Architektur und Licht.
    »Die Welt ist krank!«, rief der Redner über die Masse. Ich reckte den Hals, suchte seinen Blick. Er musste ganz in meiner Nähe sein. »Sie ist krank, denn sie hat Menschheit!«, fügte er hinzu. »Doch das ist heilbar!« Seine Worte tauchten in den Strom ein, wurden von ihm mitgerissen und unter der Flut der Leiber erstickt. Mein Herz raste, aber ich bekam den Gesuchten nicht zu Gesicht. Der Sauerstoff um mich herum war fast verbraucht. Ich hechelte, ohne genug davon zu bekommen. Alles in mir schrie nach Bewegung, nach einem Schritt nach vorne, um Luft zu schnappen.
    »Du, da drüben!« Mit weit ausholenden Schritten näherte sich ein Chroner in gelb-schwarzem Hüftrock und schwang drohend seinen stählernen Sekundenzeiger. »Geh weiter! Beweg dich! Beweg dich!« Er war ein Carnivore, laut Spindario einer der ganz üblen Sorte. Sein Gesicht mit den weit aus ihren Höhlen tretenden Augen, dem klaffenden Mund und den spitz zugefeilten Zähnen erinnerte an einen Piranha. »Geh!«, schrie er mich an. »Beweg dich!«
    Um mich herum entstand luftleerer Raum. Alles verschwamm zu einem wirren Formenstrudel, dann war der Chroner heran und schlug zu. Blut spritzte über mein Gesicht, als mich die Klinge seiner Rebasche traf. Ich torkelte im Schock vorwärts, während ein warmer, roter Schleier meinen Blick verdunkelte. Um ein Haar stolperte ich über einen Rollstuhl, der unvermittelt vor mir auftauchte.
    Ein Rollstuhl!
    Sein Insasse schreckte zusammen, riss sein heiles Auge auf und hob abwehrend einen Arm. Ich fing meinen drohenden Sturz an seinen Schultern ab und stammelte eine Entschuldigung, wobei mir das Blut aus dem Mund quoll. Das Ding im Stuhl quittierte dies mit einem giftigen Blick, überhäufte mich mit Flüchen und fuhr im Slalom davon. Ich lief weiter. Gierig sog ich die wiedergewonnene Luft in meine Lungen, während das Blut in Strömen über mein Gesicht floss.
    Nicht stürzen.
    Bloß nicht stürzen …
     
    Der Chroner drängte an mir vorbei, bahnte sich schiebend und stoßend seinen Weg durch die Menge und bezog auf einem Podest in ihrer Mitte Posten. Ich wich seinem Blick aus und

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