Morphogenesis
wir plötzlich an der Promenade eines Flusses, der sich träge durch ein breites Kanalbett wälzte. Köpfe, Münder und Hände tauchten vereinzelt aus den stinkenden Fluten auf, um einen Augenblick später wieder zu versinken.
»Gibt es denn keinen Ort, der nicht von Menschen erfüllt ist?«, fragte ich schaudernd.
»Kommt drauf an«, sagte Byron. »Wenn du die Verdammten nicht sehen willst, wirst du Plätze finden, die leer zu sein scheinen. Jeder Quadratmeter dieser Stadt huldigt der Buße und Strafe. Die Hölle ist ein Zweckgebäude, und es dient weder der Erholung noch der Erbauung. Sieh genau hin, dann wirst du Dinge erkennen, die du dir nicht einmal in deinen schlimmsten Albträumen vorstellen könntest; Stadtteile aus zusammengepressten Leibern, oder Straßenzüge, die nur aus fressenden Mäulern bestehen. Die Büßer in diesem Sektor sind verdammt, ständig verschlungen, verdaut und wieder ausgeschieden zu werden. Frag nicht, sondern öffne deine Augen und stell dich dem Grauen. Oder schließe sie, dann werden die Menschen verschwinden.«
Mein Blick schweifte flussaufwärts, wo ich eine senkrecht aufragende Felswand erkannte, die etliche Kilometer entfernt in die Wolken emporwuchs. Ein Plateau? Seltsam, so riesig es war, hatte ich es zuvor nie wahrgenommen. Vielleicht hatte ich mich bisher zu weit im Zentrum der Stadt befunden, sodass es im allgegenwärtigen Dunst verborgen geblieben war. Die Felswand zog sich in einem weiten Bogen in die Ferne, als wäre sie der Rand eines exorbitanten Kraters, in dessen Caldera die Stadt erbaut worden war. Doch wenn ich seine Kurve weiterverfolgte und zu einem Kreis schloss – wie unermesslich groß war dann die Stadt, die den Kessel ausfüllte?
Vom Plateau stürzte ein Wasserfall in die Tiefe. Ich war sicher, dass er den Fluss speiste, an dessen Ufer wir standen. Etwa zweihundert Meter von unserem Standort entfernt strömten seine Fluten aus einem breiten, verhältnismäßig niedrigen Tunnelbogen hervor, der sich in sanfter Krümmung über das Wasser spannte. Etwas weiter flussabwärts beschrieb der Kanal eine Biegung und entzog sich meinem Blick.
»Der Idu«, klärte mich Byron auf. »Sein Wasser stürzt vom Limbus herab und fließt durch die Stadt oder unter ihr hindurch bis in die Sümpfe.«
»Idu war der altägyptische Name für den Nil«, sinnierte ich und blickte die übermächtige Felswand empor. »Dort oben liegt der Limbus?«
»Das ist der Limbus.«
»Leben Menschen auf ihm?«
»Ich weiß es nicht.« Byron sah mich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. »Und es interessiert mich auch nicht.« Er schleppte mich die Promenade entlang flussaufwärts. »Wir haben es gleich geschafft.«
»Wohin bringst du mich?«
»Dich?« Der Schwarze lachte auf. »Uns, mein Freund. Ich handle vornehmlich aus Eigennutz. Es ist die einzige Chance, in der Hölle zu bestehen. In erster Linie rette ich mich. Dich nehme ich dabei lediglich mit.«
»Wie edelmütig.«
»Was machen die Wunden?«
Ich holte tief Luft, hustete Blut und krümmte mich vor Schmerzen. »Geht so«, erwiderte ich.
»Wir werden uns eine Weile unten im Tunnel verstecken«, informierte er mich über sein Vorhaben. »Chroner lassen sich sehr selten in den Unterführungen blicken, und falls sie sich hineintrauen, dann nur mit starken Laternen. Überraschen können sie uns somit nicht.«
Hinter einem Geländer oberhalb des Tunneleingangs führte eine verwitterte Steintreppe hinunter zum Wasser. Knapp unterhalb der schmutzigen Fluten sah ich schlickbedeckten Grund, der erst zwei Meter vom Ufer entfernt absank. Es sah aus, als hätte der Fluss vor langer Zeit weniger Wasser geführt und nun das einstige Ufer überflutet. Vielleicht befanden sich inzwischen auch so viele Büßer im Wasser, dass der Fluss langsam über seine einstige Begrenzung trat …
Byron setzte mich an der Treppe ab und wies mich an, zu warten. Dann nahm er die Rebasche und schritt die verrammelten Häuserfronten ab. Nachdem er an einigen der Türen gerüttelt hatte, verschwand er schließlich hinter einer davon. Lange Zeit hörte ich nur das Schnauben und Prusten der vereinzelt aus dem Wasser auftauchenden Büßer. Sie erinnerten mich an Seehunde, die hin und wieder an die Oberfläche schwammen, um Luft zu holen – doch was hielt sie überhaupt im Wasser?
Aus dem Haus, in dem Byron verschwunden war, ertönte plötzlich lauter Tumult. Knurren und Heulen drang durch die mit Brettern vernagelten Fenster, als hätte der Schwarze
Weitere Kostenlose Bücher