Morphogenesis
Krypta diente. Der Rabbiner trat ein und befestigte die Laterne mit einer langen Holzangel an einem Metallhaken, der von einer Kette gehalten unter der Gewölbedecke hing. Anschließend zog er das Mikroskop aus seinem Rucksack und platzierte es am Rand des Gewölbes behutsam auf dem Boden. Die Deckenlampe erleuchtete einen einzelnen altarähnlichen Steinblock in der Gewölbemitte, auf dem eine teils mit Tuchfetzen bedeckte Gestalt lag. Ein pulsierendes blaues Glühen drang in Höhe der Brust durch den grobmaschigen Stoff, und ein tiefer, einförmiger Summton ging von ihr aus. Der gesamte Raum war erfüllt von diesem Ton, der intensiver wurde, je näher wir dem Altar kamen. Nach und nach erkannte ich, dass es sich bei dem Stück Stoff um ein zerschlissenes Gewand handelte. Es war von der gleichen Art, wie Meliosch es getragen hatte, nur war dieses hier verkrustet von Blut, übersät von Brandlöchern und zerfetzt von den Hieben zahlloser Klingen. Es zeugte von den Qualen und den körperlichen Strapazen, die dessen einstiger Träger erlitten haben musste. Es war mehr als nur eine bloße Vermutung meinerseits, dass es Elijah gewesen war, der diesen Mantel vor langer Zeit auf seiner Flucht hierher getragen hatte. Als wir schließlich vor dem Steinquader standen und der Rabbiner die Stofffetzen beiseite geschlagen hatte, klang das Summen aus der Brust der Gestalt fast wie der Antrieb eines Paraboliden.
Auf dem Altar lag ein blank gefressenes Skelett. Teile seines Brustkorbs waren durch Metallrippen ersetzt, die Wirbelsäule, der linke Arm und beide Oberschenkelknochen bestanden gänzlich aus einer silbrigen Legierung. Eine große Metallplatte, in die Form eines menschlichen Gesichts gepresst, bedeckte die Hälfte des Schädels. In den leeren Augenhöhlen erkannte ich eine erstarrte Masse, die aussah wie verschmortes Plastik. Der gesamte Brustkorb der Kreatur war erfüllt von verrotteten Schläuchen, Kabeln und patinierten Metallteilen. Inmitten des Thorax arbeitete träge eine dreckverschmierte Maschine, und anstelle des Herzens glühte ein Kristall zwischen den Rippenbögen hindurch.
Während Elijah mich lauernd vom Kopfende des Tisches an beobachtete, hing mein Blick wie gebannt an dem Ding, das auf dem Steinblock ruhte.
»Was ist das?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst ahnte.
»Mein treuester Qdem«, erklärte Elijah in einem Tonfall, als läge vor ihm lediglich ein sezierter Frosch. »Sein Name war Barot.«
»Aber – das ist unmöglich!«
»Tatsächlich?« Elijah lachte und sah zu Byron. »Unmöglich sei es, behauptet er, Euer Freund. Hier, an diesem Ort!« Und wieder an mich gewandt: »Was habt Ihr geglaubt, sei dies? Ein Chroner?«
»Ich weiß es nicht.«
»Diese Worte höre ich von Euch andauernd«, bemerkte der Rabbiner.
»Ist das während Eurer Flucht mit ihr geschehen?«, wollte ich wissen. »Das unvollendete Werk von Tempern?«
»Nein.« Elijah starrte hasserfüllt in das blaue Glühen, das unter den Metallrippen pulsierte. »Dazu wurde sie erst hier, als ich ihr den Gottesnamen von der Stirn löschte; zu diesem Gerippe aus Schmutz und Schrott. Ich wollte ihr einen Sabbat-Tag schenken, ein wenig Frieden. Aber ich vergaß wohl für kurze Zeit, wo wir uns befanden …« Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: »Diese Welt ist tot, junger Freund, seit einer Ewigkeit schon. Unter ihrer Oberfläche sieht alles so aus wie dieser seelenlose Golem, mit dem man mich betrog. Und ich bin sicher, dass auch Meliosch, die Soldaten, die Chroner und alle restlichen Höllengeschöpfe unter ihrer Fleischschale so aussehen wie sie. Darum berührt mich ihr Schicksal nicht.«
»Meliosch wirkte äußert lebendig, als ich mit ihm sprach.«
Elijahs Augen funkelten. »Nicht alles, was spricht, lebt unweigerlich.«
»Ich habe miterlebt, wie ein Chroner von den Tempern ausgelöscht wurde«, hielt ich dagegen. »Da war kein Metall unter seiner Haut. Die Würmer haben ihn vollkommen aufgefressen.«
»Aufgelöst«, berichtigte mich Elijah. »Aufgelöst, nicht aufgefressen. Fragmentiert. So wie Säure den Kalkstein zersetzt. Und jetzt hebt Eure Hand.«
»Wie bitte?«
»Eure Hand!« Der Rabbiner hatte ein Messer gezückt und hielt vor sich eine nierenförmige Schüssel, wie sie für einen Aderlass gebräuchlich war.
Ich sah ihn misstrauisch an. »Was haben Sie vor?«
Statt zu antworten, setzte Elijah blitzschnell einen Schnitt in meinen Daumen, packte meine Hand und sammelte das Blut in der Schüssel.
»Ihr
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