Morphogenesis
wolltet wissen, woher ich den metallischen Staub habe«, erinnerte er mich, während er einen Tropfen meines Blutes auf einer Glasplatte zu einem dünnen Film verrieb und diese unter das Mikroskop legte. »Hier, bitte«, forderte er mich auf, nachdem er den Objektträger erleuchtet hatte.
Ich ließ mich auf die Knie nieder und beugte mich über das Gerät. Auf alles wäre ich vorbereitet gewesen, nur nicht auf das, was ich durch die unscharfen Linsen der Röhre sah. Auf den ersten Blick glichen die winzigen, pyramidenförmigen Objekte unter dem Mikroskop jenen, die ich kurz zuvor in Elijahs Labor betrachtet hatte. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass diese hier nicht grau oder schwarz waren, sondern metallisch rot. Davon abgesehen war ihre Form mit der ihrer dunklen Gegenstücke bis aufs kleinste Detail identisch. Und noch etwas unterschied sie von jenen: Sie waren aktiv! Scheinbar aufgeregt schwärmten und drängelten sie auf der Glasplatte umher, als suchten sie die Wunde, aus der sie gequollen waren, die Kapillaren, aus denen Elijah sie gepresst hatte. Sie bildeten Gruppen und bewegten sich in breiten Kolonnen, als zwinge sie ihre Programmierung weiterhin, den Blutfluss im Körper zu imitieren, bis sie nach kurzer Zeit wieder auseinander strebten. Ich starrte in das Mikroskop, bis mir die Augen tränten, ungläubig, entsetzt, fasziniert und erschüttert. Schließlich legte ich meinen Daumen auf die Glasplatte, sodass seine Kuppe wie eine monströse Wand unter der Linse auftauchte. Schon konnte ich beobachten, wie die winzigen Maschinen auf die langsam heilende Wunde zuströmten, an deren Schnitträndern sich weitere Hundertschaften von Nanorobotern gruppiert hatten, um die Verletzung zu schließen und das Gewebe zu erneuern. Erst als sich unter dem Mikroskop nichts mehr regte und meine Augen von der Wärme der Gegenlichtflamme so ausgetrocknet waren, dass das Blinzeln wehtat, sah ich auf. Wohin ich blickte konnte ich nicht sagen. Irgendwohin, durch den Fußboden hindurch, durch das gesamte Stadtfundament hinab in einen bodenlosen, schwarzen Schlund der Erkenntnis, dass alles um mich herum eine Lüge war.
»Es übersteigt meine Fähigkeiten, die Zahl dieser mēchos pro Körper zu bestimmen«, drang Elijahs Stimme wie aus weiter Ferne an mein Gehör. »Sie sind Legion. Setzen wir als Wert vielleicht die Anzahl der Zellen voraus, aus denen ein lebender Mensch besteht. Euer Körper hier setzt sich also aus rund einhundert Billionen dieser mēchos zusammen. Autonom arbeitende … äh, Roboter, wie Ihr sie nennt, die in der Lage sind, sich in enormer Geschwindigkeit selbst zu reproduzieren. Verliert ein Körper durch eine Verletzung zehn Milliarden von ihnen, reproduzieren die restlichen sich so lange, bis die ursprüngliche Anzahl wiederhergestellt ist.«
»Und ebenso die ursprüngliche Form«, ergänzte Byron von irgendwo her. »Was den Heilungsprozess der vermeintlich sogar tödlich Verletzten erklärt.«
Ob die beiden zu mir sprachen oder sich miteinander unterhielten, erkannte ich nicht.
»Wir leben unter mēchos«, vernahm ich die Stimme des Rabbiners. »Wir werden von ihnen regiert und beten zu einer Entität, die sich ihrer künstlichen Natur womöglich nicht einmal bewusst ist. Was diese Welt einst war, ist seit Äonen dahin. Sie ist nur noch ein staubbedecktes Skelett mit einer künstlichen Zivilisation aus Schindern und Gequälten, angeführt von einem gigantischen Tyrannocephalus!«
Ich blinzelte, schaute nach Elijah aus und entdeckte ihn neben den Überresten seines Golems. Fast wehmütig streichelte er den Skelettschädel, als wische er ihm Tränen aus den toten Augenwinkeln, dann steckte er seine Hand in den Brustkorb. Er riss etwas heraus, das den Kristall mit der Maschine verband, und ließ es in seiner Manteltasche verschwinden. Das blaue Glühen erlosch, gleichzeitig verstummte der tiefe, summende Ton in der Brust des Golemgerippes. Der Kristall wurde erst milchig, dann porös und zersprang schließlich mit einem dumpfen Klirren in tausend Stücke. Rauchschlieren tanzten durch den Raum.
Ich blickte wie versteinert auf den Thorax. Zu unbegreiflich war der Abgrund, der sich hinter meinem Glaubenshorizont auftat, so gewaltig, dass ich ihn mit meinen rotierenden Gedanken gar nicht auszufüllen vermochte.
»Nun, ich hatte Euch gewarnt«, flüsterte mir Elijah ins Ohr, als er an mir vorbeischritt. »Ihr habt dem Schein dieser Welt vertraut, ohne ihr Sein zu erkennen. Nichts lebt hier,
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