Morphogenesis
was den Freiraum füllte, war ein großer, umrahmter Schriftzug, der lautete: Libyae interioris pars. Die übrige Landschaft wurde dominiert von langgestreckten Bergrücken, die kreuz und quer durch die Sahara verliefen, und zahllosen Flussläufen, die in große kreisrunde Seen mündeten. Offensichtlich war alles, was westlich des Nils im Landesinneren abgebildet war, der blühenden Phantasie des Kartographen entsprungen. Ich hätte mich weit weniger über die Landkarte gewundert, wenn Mordor darauf gestanden hätte, Avalon, Atlantis oder Oz.
Hilflos schüttelte ich den Kopf und massierte mir die Augen.
»Ja, aber wisst Ihr es denn nicht mehr?«, entfuhr es Elijah beinahe schon entsetzt.
»Doch«, beruhigte ich ihn, »aber – bei allem Respekt – mit dieser Karte kann ich nichts anfangen.«
»Oh …« Elijah starrte konsterniert auf den Tisch. »Ist sie nicht vollständig?«
»Sie ist zu alt«, erklärte ich. »Das ist eine Karte von Nordafrika – nach Ptolemäus!«
»In der Tat«, zeigte sich der Rabbiner begeistert. »Vollendet 1541. Eine wundervolle Arbeit, findet Ihr nicht?«
»Sicher, aber leider nicht wirklichkeitsgetreu. Die Küstenlinie ist zu schlampig wiedergegeben, das Landesinnere ein einziges Phantasien. Der Nil ist viel zu linear, und diese beiden Gebirgszüge, die sich an seinen Ufern erstrecken, existieren nicht …«
»Oh, sie stilisieren nur das Flusstal.«
»Haben Sie keine modernen Karten? Atlanten, die auf Satellitenaufzeichnungen basieren?«
»Satelliten?« Elijah sah verwirrt drein. »Ihr meint Sternenkarten?«
Ich warf einen Hilfe suchenden Blick zu Byron, der unserem Kommunikationsproblem ein gewisses Maß an Belustigung abzugewinnen schien.
»Bringt ihm die neuzeitlichste Karte von Ägypten, die Ihr besitzt«, bat er den Rabbiner. »Und lasst Euch gesagt sein, dass mein Freund Anno Domini 2005 hierher verschlagen wurde …«
»Gütiger Himmel«, seufzte Elijah und ging zurück zum Kartenständer. »Die Zeit vergeht, und der Mensch bleibt ihr unterlegen … Hier, L’Égypte et la Cyrenaïque von Dufour«, verkündete er, als er wieder zurückkam. »Datiert auf 1836.« Er entrollte die Karte und machte mir erwartungsvoll Platz.
»Viel besser«, erkannte ich. »Wenn auch nicht optimal …«
»Etwas Neueres besitze ich nicht«, verteidigte sich der Rabbiner. »Dieser Stich zeigt mir bereits eine Welt, wie sie fast dreihundert Jahre nach jener beschaffen war, die ich verlassen habe. Für mich zeigt sie ein fernes Utopia!«
»Tut mir Leid«, entschuldigte ich mich. »Ich wollte Sie nicht schon wieder beleidigen.«
»Schon gut, schon gut.« Er sah mir über die Schulter. »Könnt Ihr zufällig zeichnen?«, fragte er scheinheilig.
»Keine Landkarten.«
»Das ist bedauerlich …« Er schlurfte zu einem Stuhl, zog ihn heran und ließ sich seufzend neben mir nieder.
Zweifellos hatte der Stich, der vor mir lag, seinerzeit als Seekarte gedient. Am getreuesten dargestellt waren die ägyptische Küste, das Nildelta und der Flusslauf bis zum dritten Katarakt. Leider gab auch sie die Küstenlinie nicht so detailgetreu wieder, wie ich es mir gewünscht hätte. Die Libysche Wüste war eine einzige leere Fläche, die der Künstler lediglich mit einen geschwungenen Schriftzug gefüllt hatte: Al wâdî al jadîd.
Ich studierte die alten französischen Namen der Küstenorte. Die Bezeichnung Selinunté schien für das heutige As Sallûm zu stehen, eine Hafenstadt an der Grenze zu Libyen.
Ich bat Elijah um Metermaß und Graphitstift und zog unter seinen aufmerksamen Blicken eine senkrechte Gerade bis hinab ins Gebiet des heutigen Sudan. Dann folgte ich mit dem Finger dem halbwegs originalgetreu übertragenen Verlauf des Nils flussaufwärts, bis ich auf eine Markierung stieß, die den Horus von Buhên abbildete, eine Tempelstadt gegenüber dem heutigen Wadi Haifa. Von hier aus zog ich eine weitere Gerade nach Westen, bis diese die senkrechte Markierungslinie schnitt.
»Hier«, erklärte ich und deutete auf die Stelle, wo sich die beiden Linien trafen. »Der Djebel Uweinat.«
»Aah«, machte Elijah. Dann war er auch schon wieder unterwegs zum Kartenständer. Diesmal schleppte er eine großformatige Rolle heran, die über zwei Meter lang sein musste. Während er sie auf dem Tisch deponierte, leuchteten seine Augen voll aufgeregten Tatendrangs.
»Wartet«, sagte ich und unterbrach ihn in seinem Tun. »Ihr schuldet mir noch ein paar Antworten.«
»Antworten? Worauf?«
»Auf die Wahrheit.
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