Morphogenesis
Korridore nahm ich einen schwachen Lichtschein wahr. Eine Tür hatte sich geöffnet, milde Helligkeit drang auf den Flur. Ich ging auf das Licht zu und gelangte in einen großen, von Menschen erfüllten Saal. Alle Anwesenden trugen schlichte weiße Hemden und Hosen, die von Blut und Erbrochenem bedeckt waren. Sanftes Lächeln lag auf ihren Gesichtern, als sie den Kreis um mich herum schlossen. Ich versuchte sie wegzudrängen, schlug wütend um mich, doch meine Hiebe blieben ohne Wirkung. Meine Gegenwehr erlahmte, meine Schreie verebbten in einem verzweifelten Ringen nach Luft. Dann stand ich still wie sie, und sie ließen wieder von mir ab. Kraftlos sank ich auf weißen Fliesenboden. Zahlreiche Hände ergriffen mich und zogen mich wieder auf die Beine. Ich wurde vorwärts gestoßen, spürte die Tritte von Knien und Füßen in meinem Rücken und torkelte gegen ein mächtiges, steinernes Tischrund. Scharen von Ameisen stoben vor meinen Händen auseinander, als ich meinen drohenden Sturz abfing. Hinter den Tischen standen neun gesichtslose Wesen in Arztkitteln und überreichten den Anwesenden mit pastoralem Gleichmut bizarre Objekte, die auf den ersten Blick keinen Zweck zu erfüllen schienen. Die Menschen nahmen sie begierig entgegen, wobei sie erfreut oder entsetzt reagierten. Einer Person, die von Narben und Geschwulsten überwuchert war, wurde eine unscheinbare Holzkiste ausgehändigt. Der Beschenkte lief damit ein paar Schritte durch den Saal, öffnete sie und wurde augenblicklich von einem der Truhe entströmenden rotbraunen Nebel umhüllt. Er schrie auf und rannte gepeinigt davon, doch seine Flucht währte nur kurz. Er erreichte den Ausgang nie, einzig der Nebel entfloh gesättigt in die Dunkelheit …
Eines der gesichtslosen Wesen hob etwas Großes, Längliches empor und überreichte es mir. Das Bündel ähnelte einer menschlichen Mumie, besaß Arme und Beine und einen Kopf. Erst als ich den in gespinstartiges, weißes Tuch gehüllten Körper in meine Arme nahm, erkannte ich das Gesicht. Ich fühlte mich, als hielte ich gefrorenen Stickstoff in den Händen, der langsam schmolz und durch meine Haut in mein Blut strömte. Das Bündel begann unter meinen Händen zu leben, zuckte, pulsierte und verformte sich. Durch den dünnen, transparenten Stoff, der wie ein Brautschleier über dem Kopf lag, schimmerte Sahias Gesicht. Es war feuerrot, als wäre es verbrüht, die Haut war aufgeplatzt und von Blasen übersät. Sie blickte mich an. Es waren keine menschlichen Augen, die mich musterten. Merets Reptilienaugen ruhten auf mir. Ich wollte sie fallen lassen, ihren feuerroten Kopf zertreten, ihr die anklagenden Augen aus dem Schädel stampfen, doch ich vermochte es nicht. Ihr Körper schien mit meinem verwachsen zu sein, seine Kälte lähmte meine Muskeln.
Meret hob einen ihrer schwarz verkrusteten Arme aus dem verhüllenden Tuch und strich mir zärtlich über die Wange. »Sha’al bajach shawi«, hauchte sie. »Wie lange willst du noch davonrennen, Kematef? Du kannst dich nicht ewig vor mir verstecken.« Dann zog sie mich zu sich heran und presste ihre eiskalten Lippen auf die meinen. Ich schleuderte sie von mir. Sie riss Haut- und Fleischfetzen aus meinen Händen und Armen mit sich. Ihr Körper berührte den Boden nie, das gespinstartige, weiße Tuch war alles, was den mich umgebenden Personen vor die Füße fiel. Einzig ihr Parfum hing noch in der Luft, ein Hauch von Oleander und verbranntem Horn.
Ich warf mich gegen die Menschen, drängte mich durch den Kordon aus Leibern und rannte hinaus auf den Korridor. Blindlings hetzte ich durch die Finsternis, bis ich gegen die Brüstung der Galerie prallte. Vom eigenen Schwung getragen kippte ich vornüber und stürzte in die Tiefe …
Dunkelheit. Mein Gesicht strich über kaltes, feuchtes Gestein. Ich starrte eine Weile in die Schwärze, konnte mich an keinen Aufprall erinnern. Mein Körper musste auf dem Grund des Treppenhausschachts zerschmettert worden sein. Wie lange hatte ich hier gelegen, ehe sich die gebrochenen Knochen zusammengefügt hatten und das zerplatzte Fleisch wieder verheilt war? Stunden? Tage?
Vorsichtig erhob ich mich und irrte durch die Finsternis, bis ich auf eine Wand stieß. Ich schritt sie ab, ertastete keine Ritzen, keine Türen und keine Stufen. Meine suchenden Finger wanderten über nacktes, raues Gestein. So lief ich im Kreis herum, eine Ewigkeit lang. Am Ende hielt ich inne und ließ mich am Gestein zu Boden sinken.
Über mir, in
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