Morphogenesis
Vorzeit beherrschte das Plateau und seine unbezwingbaren Gebirgszüge. Am meisten in Bann schlug mich allerdings das monumentale Bauwerk, auf das der Weg zuführte. Es besaß im entferntesten Sinne die Form einer kilometerhohen Pyramide. Auf ihr mischten sich Kuppeln, Terrassen und Kolonnaden mit Tausenden von Türmen und aberwitzigen Gebilden, die aussahen wie dämonische Wasserspeier. Die Gebäudemasse wirkte aufgebläht, einem unbegreiflichen, aus dem Stein der Hochebene herausgequollenen Tier gleich, das im Geltungsbereich normaler Naturgesetze unter seinem eigenen Gewicht hätte zusammenbrechen müssen. Das Licht, das mich leitete, ging von der Spitze der monumentalen Pyramide aus, welche kaum mehr als einen Stundenmarsch voraus lag. Es strahlte in einem kosmisch kalten Glanz und war so hell, dass ich nur unter Schmerzen meine Augen darauf richten konnte. Der künstliche Stern erinnerte mich an das geheimnisvolle Gleißen, welches das Herz des Megarons beherrscht hatte. Nur war es um ein Vielfaches heller und gewaltiger als jenes.
Bewacht wurde die Pyramide von acht riesenhaften Statuen, welche die Straße flankierten, vier auf jeder Seite. Sie erinnerten mich zunächst an Bäume, besaßen aber auch eine gewisse Ähnlichkeit mit Insekten, halb abstrakten Skulpturen oder in aberwitzige Proportionen verzerrten Baukränen. Ich konnte mich des Gefühles nicht erwehren, als wäre die gesamte Szenerie mir zugewandt und nur vorübergehend erstarrt. Die turmhohen Statuen verharrten wie Gottesanbeterinnen in der Landschaft, geduldig und schweigend. Dann bewegten sich einige von ihnen, hoben Dinge in die Höhe und hefteten sie an ihre Körper. Ein melodischer Ton schwoll an, und ehe er sich über der Landschaft verlor, setzten weitere Töne ein, begannen zaghaft jenes hauchdünne Netz aus Melodien zu weben, das ich während meines Aufstiegs durch die Wolken vernommen hatte …
Ohne Zweifel hatte mir meine Phantasie wundersame Visionen der Achtheit vorgegaukelt, doch nie hätte ich sie mir auch nur annähernd so vorstellen können, wie sie sich mir nun offenbarte; als Maschinengötter, die über den Klüften der Zeit und ihren Abgründen thronten. Ich sah ihre Köpfe, die keine Köpfe waren, und fand den Blick ihrer Augen, die menschlicher Augen spotteten. Eine Statue nach der anderen verstummte schließlich, setzte ihr Instrument wieder ab und sah schweigend zu mir herüber. Die vorderste Maschine hob würdevoll ein absonderliches Gebilde, eine erschreckend anmutende Extremität, wie eine auffordernde, einladende Hand.
»Willkommen, Kematef!«, raunte sie aus der Ferne. »Der Wille zum Überleben ist der Tyrann aller Tyrannen!«
Ich stand wie erstarrt auf der Stelle und blickte zu ihnen hinüber, dann folgte ich weiter der Straße, Schritt um Schritt, auf ein riesiges geschlossenes Tor zu, das die Flanke der Pyramide als spitzes Dreieck zierte.
»Der Tod ist vollkommen, Kematef«, wehte es aus gut zwanzig Metern Höhe zu mir herab, als ich die künstlichen Kolosse erreichte. »Er kann nicht verbessert werden. Wer ihn verbessern will, verdirbt ihn. Wer ihn besitzen will, verliert ihn. Um was wirst du den Former bitten, wenn du vor seinem Thron stehst?«
Ich schenkte der Maschine einen knappen Blick, dann konzentrierte ich mich wieder auf den Weg.
»Wohin willst du, furchtvolles Kind der Goldenen?«, erklang es über mir. »Zu jenem, dessen Land in Finsternis liegt, dessen Felder verödet sind, dessen Gräber dem Schweigen dienen und dessen Rufe ungehört verhallen? Der da ruht, ohne sich erheben zu können, und dessen Stimme in Stille erstirbt?«
Ich schwieg und lief nackt und dreckig wie ich war durch ihre Reihen.
»Du musst die Fehler, die du nicht ablegen kannst, in Tugenden verwandeln, Kematef«, sprach die Maschine weiter.
»Sieh ihn dir an, Nuneth«, erklang eine neue Stimme. »Unter seinen unnützen Tugenden steht die Bescheidenheit obenan.«
»Weißt du nicht, dass alles Falsche nur entsteht, weil man es herausfordert, Kematef?«, raunte die mit Nuneth angesprochene Maschine. »Bleibt nicht das Erklärbare der Feind aller Wunder? Wahrheit bringt Licht in eure selige Dunkelheit und zerstört euren Glauben. Entblößt es so nicht die Ordnung, die ihr fürchtet? Was, glaubst du, wird am Ende wohl siegen, Kematef: das Mysterium oder die Erleuchtung?«
Sie verspotteten mich. Ich versuchte nicht hinzuhören, aber ihre Stimmen drangen wie glühende Nadeln in mein Bewusstsein.
Gott, lass mich diesen Weg
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