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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Schlangenkopf. Mein Gegenüber hingegen betrachtete mich, als blicke er auf einen Haufen Unflat herab. Je länger ich ihm in die Augen sah, desto mehr hatte ich das Gefühl, mein Blut verwandle sich in Eiswasser. Es war kalt hier drinnen, lausig kalt. Meine Glieder schlotterten, doch der Frost um mich herum war nichts gegen die Kälte, die diesem Wesen entströmte.
    Blickte ich endlich in die Augen jener Kreatur, das die Verantwortung für all das Grauen trug, dem ich begegnet war? Für die zahllosen Schrecken, die ich erlitten hatte? Oder gab es noch etwas Höheres, Unfassbareres, das über dieses Inferno herrschte? Mein Gegenüber besaß ein nicht halb so furchterregendes Äußeres wie jene, die vor den Toren dieser Pyramide wachten. Dennoch umgab ihn eine Aura, die selbst die Achtheit in die Knie zu zwingen vermochte. War das, was ich zu sehen glaubte, womöglich nur der äußere Anschein von etwas viel Komplexerem, eine visuelle Simplifikation des Unbegreiflichen?
    »Hippolyt, du staunst, du sagst nichts?« Thot verbarg seine Schlangenarme hinter seinem Rücken.
    Mein Blick verlor sich in seinen Augen, aus denen all die Dunkelheit herauszuquellen schien, die uns umgab. »Hat es Spaß gemacht?«, brachte ich schließlich hervor.
    »Ich bin alt, Hippolyt«, gab das Wesen wie zur Entschuldigung zurück. »Ich war bereits alt, als ich einst eure Obhut übernahm. Seit Äonen bin ich an diesen Ort gebannt.«
    »Weil du einen Fehler begangen hattest …«
    »Weil ich ehrgeiziger war als alle anderen vor mir!«
    »Also mischst du dich verkleidet unter die Verdammten.«
    »Überdruss ist die schlimmste aller Höllen, mein Freund.«
    »Zu welchem Zweck? Um dich zu amüsieren? Dich zu unterhalten?«
    »Um zu lernen, Hippolyt. Jede neue Seele bringt neues Wissen über deine Welt nach Sarara. Über die Welt, die ich mit erschaffen hatte, und über die Menschen, die sie bevölkern – allumfassendes Wissen, das weit über die einstigen Grenzen der Sphäre hinausreicht.«
    »Du hast deine Rolle sehr überzeugend gespielt. Fast schon menschlich.«
    »Oh, vielen Dank. Ich hatte gleichwohl Jahrtausende, um zu üben.«
    »Wozu? Um uns zu verspotten, so wie du es auf der Straße der Temper getan hast?«
    »Nein, Hippolyt. Du hättest meiner Proklamation vor unserer ersten Begegnung mehr Aufmerksamkeit zollen sollen. Ich lerne, um mein Erbe anzutreten. Glaubst du, ich bin inzwischen Mensch genug geworden, um mich unter Euresgleichen zu mischen – so, wie es einst Jesus tat?« Aus der Maulspitze des Wesens züngelte eine armlange gespaltene Zunge. Ich fuhr erschrocken zurück, entspannte mich jedoch sofort wieder und ermahnte mich, weniger schreckhaft zu sein.
    »Du wirst nie Mensch genug sein«, urteilte ich. »Du bist und bleibst ein Epigone.«
    Thot lachte, ein eigenartiges Geräusch, das mich erschaudern ließ. »Das warf mir bereits der Nazarener vor, als ich ihn damals in der Wüste aufsuchte. Ihr Iretmethen seid voller Vorurteile. Aber vielleicht hast du Recht. Nun, wolltest du mir nicht ins Gesicht spucken für meinen makabren, grausamen Humor, der sich mit falschem wissenschaftlichem Tatendrang paart? Bist du nicht hierher gekommen, um Erkenntnis zu finden und die Hölle zu begreifen? Bin ich dir nicht Personifikation genug, um deinen Hass und deine Wut auf mich zu vereinen? Oder bringt dich mein Äußeres aus der Fassung? Was hast du erhofft, zu finden; einen bocksfüßigen Gehörnten mit dem Gesicht einer schwarzen Ziege? Dantes hilflos im Eis gefangenen Koloss, der in den Mäulern seiner drei Gesichter Judas, Brutus und Cassius zerkaut?«
    Ich schüttelte schwerfällig den Kopf. »Dazu fehlt mir der rechte Glaube.«
    »Oh, Glaube …« Das Wesen neigte bedeutungsschwer sein Reptilienhaupt. »Sarara verkörpert inzwischen mehr davon, als du dir vorstellen kannst.«
    »So viel, dass es die Grenze zum Irrsinn längst überschritten hat«, erwiderte ich äußerlich unbeeindruckt. »Was ich gesehen habe, folgt keinerlei Konzept. Eine Hölle, die zahllose irdische Höllen in sich vereint, planlos und bar jeder Logik. Eine Unterwelt, bestehend aus Maschinen, die Leben kopieren, beherrscht von Maschinen und kontrolliert von künstlichen Teufeln. Wie konnte es dazu kommen?«
    Thot schwieg eine geraume Zeit, dann sagte er: »Ich kann dir nur Letzteres beantworten, Hippolyt. Was Sarara einst war, hast du bereits bei Elijah gelernt. Wir sind Architekten des Lebens, und unsere Rasse ist so alt, dass wir selbst nicht mehr wissen, woher

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