Morphogenesis
glatt und kühl, doch als er mit der Faust dagegen schlug, erzeugte sein Hieb keinerlei Klang. Langsam folgte Ka der eigenartigen Wand und ließ dabei seine Handfläche prüfend an ihr entlanggleiten. Er hoffte einen Spalt zu erfühlen, einen verräterischen Lufthauch, der auf eine verborgene Tür hinwies, aber da war nichts. Würde er die Wand nicht unter seinen Fingern spüren, würde er an ihrer Existenz zweifeln. So weit sein Blick reichte, war keine Unterbrechung der Oberfläche zu erkennen; keine Tür, keine Klinke, kein Schloss. Die Wand war weiß und ohne Konturen wie der Rest dieser Krankenhalle. Die einzigen Formen bildeten sein in der Ferne kaum noch zu erkennendes Krankenbett und er selbst.
Plötzlich gab die Oberfläche unter seiner Hand leicht nach. Es geschah so unerwartet, dass er ein paar Meter weiterlief und erst stehen blieb, als die Wand bereits wieder massiv war. Dann ging er aufgeregt rückwärts, bis er die Stelle abermals erreichte: eine Schwingtür! Nahezu unsichtbar war sie in die Wand eingefügt und gab lautlos nach, sobald er dagegen drückte. Vorsichtig streckte er seinen Kopf hindurch. Nichts war auf der anderen Seite zu hören, aber zum ersten Mal sah er eine Kante. Sie verlief auf dem Fußboden, kaum zwei Schritte entfernt und parallel zur der Wand, der er seither gefolgt war. Jenseits der Tür befand sich ein Flur!
Ka sah sich um, dann schlüpfte er mit dem Infusionsständer durch den Ausgang. Der Korridor war so schmal, dass seine Fingerspitzen die Wände berührten, sobald er die Arme ausstreckte. Wie hoch er war, konnte Ka nicht abschätzen. Vielleicht fünfzig Meter, vielleicht aber auch weitaus höher. Der Länge nach schien der Korridor sich wie die Halle, in der Ka erwacht war, ins Unendliche zu erstrecken – mit einem bedeutenden Unterschied: In einiger Entfernung saß ein Mensch auf dem Boden!
Die Person, die in dieselbe schlichte Krankenhauskluft gekleidet war wie Ka, nahm keine Notiz von ihm, als er mit über die Fliesen ratterndem Infusionsständer auf sie zuging. Beim Näherkommen bemerkte er, dass sie ebenfalls einen Infusionsständer bei sich hatte. Allerdings war er umgestürzt und lag neben ihr auf dem Boden.
Als Ka das zusammengesunkene Bündel Mensch erreicht hatte, erkannte er, das es sich um eine Frau handelte. Sie war mittleren Alters und sehr hellhäutig, besaß jedoch eine unverkennbar arabische Physiognomie. Während ruhige, gleichmäßige Atemzüge ihre Brust hoben und senkten, blieb ihr Blick teilnahmslos auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Sie starrte, ohne jemals zu blinzeln, wie eine Wachsfigur.
»Hallo?« Ka beugte sich über sie, bewegte eine Hand vor ihren Augen. »Können Sie mich verstehen?«
Die Frau zeigte keinerlei Regung. Ka griff nach ihrem Infusionsständer und richtete ihn auf. Die Flüssigkeit in ihrem Beutel war bernsteinfarben und fast aufgebraucht. Lobus temporalis prangte auf ihrem Etikett. Er untersuchte die gläserne Tropfkammer, stellte fest, dass durch den Sturz nichts beschädigt worden war, überprüfte den Sitz der Verweilkanüle am Arm der Frau und setzte den Tropf vorsichtig wieder in Gang.
Nach ein paar Minuten blinzelte die Frau, erst einmal, dann mehrmals kurz hintereinander, als hätte man sie soeben aus tiefer Hypnose geweckt. Sie drehte langsam den Kopf, ihre Augen rollten suchend in den Höhlen, bis sie Ka erblickte.
»Mehr …«, flüsterte sie.
Er starrte sie fasziniert an, riss sich schließlich von ihrem Anblick los und stellte die Schlauchklemme so ein, dass die goldene Flüssigkeit in kürzeren Intervallen in die Tropfkammer rann. Bald darauf kehrte weiteres Leben in die Frau zurück. Sie richtete sich auf, während ihr Körper sich spannte, und streckte Ka auffordernd eine Hand entgegen.
»Danke junger Freund«, murmelte sie, nachdem er ihr auf die Beine geholfen hatte. »Ich fürchte, ich bin irgendwann gestolpert, und dann …« Sie fingerte an dem Infusionsbeutel herum und zog ihn von der Halterung. »Ah …«, machte sie, hielt den Beutel ein paar Zentimeter weit vor ihre Augen und wiederholte: »Ah … Das wird kaum noch etwas nützen, wissen Sie.« Ka antwortete nicht, was sie dazu veranlasste, den Beutel wieder aufzuhängen. »Aber ich sollte mir trotzdem einen neuen holen, wissen Sie? Ich glaube …« Sie beugte sich wieder vor und las etwas von dem Etikett ab. »Ja, ich glaube, das wird dann der mit der Nummer 1077 sein. Ja, 1077 … Aber das wird kaum noch etwas nützen, wissen Sie
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