Morphogenesis
nur mehr ein Flüstern. »… höre Sie.« Er hielt mühsam die Augen offen und betrachtete das Mondgesicht des Assistenten. Der Mann begegnete seinem Blick und nickte knapp. »In Ordnung«, befand er und verschwand aus Kas Gesichtsfeld. Das Konterfei der Schwester nahm seinen Platz ein. Sie lächelte wie gewohnt und hielt eine Sammlung von Fotografien über ihn. Die Aufnahmen zeigten Gebäudemauern; Reliefwände, die über und über mit Hieroglyphen bedeckt waren.
»Erkennen Sie den Sinn dieser Inschriften, Mister Ka?«
»Nein.«
Die Schwester legte sich Zeige- und Mittelfinger auf die Lippen, studierte die Fotografien und begann sie zu ordnen. Dann las sie: »Es gab Geschrei und Lärm, Donner und Erdbeben, und ein Tumult entstand unter dem Land. Plötzlich brachen zwei große Uräen aus der Erde hervor, der wahre Gott und sein Schatten, beide bereit zu kämpfen. Sie brüllten gewaltig, und durch ihr Brüllen wurden alle Völker zum Kampf aufgereizt. So begann der Krieg, und der Krieg lebt fort …« Die Schwester sah auf. »Sagen Sie, Mister Ka, wissen Sie denn, in welchem Land Sie sich befinden?«
Er schüttelte den Kopf.
»Denken Sie genau nach.«
»Gibt es denn noch ein Land?« Als der Strom seinen Körper lähmte, glaubte Ka, jedes einzelne seiner Gelenke würde auseinander reißen. »Schalten Sie es ab, bitte!« Er schrie, so laut es seine Stimmbänder zuließen. »Ich weiß es nicht. Gott, ich weiß es nicht …!«
Der Mann im weißen Kittel schaltete den Strom nicht ganz ab. Ein geringes Quantum floss weiterhin, ließ Kas Zähne klappern und seine Muskeln vibrieren, als leise Präsenz eines Schmerzes, dem er jederzeit wieder voll ausgesetzt werden konnte.
»Lassen Sie Gott vorläufig aus dem Spiel«, empfahl die Schwester.
»Verzeihen Sie«, schluchzte Ka, als er wieder reden konnte.
»Erinnern Sie sich an ihre Geburt, Mister Ka?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie sind das Resultat eines politischen Aktes. Ihre Mutter war Ägypterin, ihr Vater ein britischer Monteur. Beide kamen bei einem Schiffsunglück ums Leben. Die Stadt, in der Sie geboren wurden, heißt Kairo. Haben Sie diesen Namen schon einmal gehört?«
»Ich erinnere mich nicht …«
»Sie sind immer noch in Kairo, Mister Ka.« Der Stromregler wanderte eine Sekunde lang auf Maximum, und das Zimmer explodierte in einer alles verschlingenden Welle aus Schmerz.
Als er aus der Bewusstlosigkeit erwachte, zog ihm der dickgesichtige Assistent eine Injektionsnadel aus der Haut und verrieb die Einstichstelle mit seinem Daumen. Einen Moment später richtete sich der Tisch, auf dem Ka lag, senkrecht auf. Lediglich die Halsmanschette verhinderte, dass sein Oberkörper kraftlos nach vorne viel. Dafür hing er in der Fessel und hatte das Gefühl, stranguliert zu werden. Als ihm der Sauerstoffmangel erneut die Besinnung zu rauben drohte, zogen kräftige Hände eine breite Kunststoffschlaufe über seine Brust, die ihn an den Tisch fixierte. Im selben Moment öffnete sich die Halsmanschette und erlaubte ihm wieder zu atmen. Ka hustete und keuchte, während die Schmerzen in Lunge und Kehle langsam nachließen. Kraftlos sah er auf seine Peiniger. Die Schwester betrachtete ihn lange, den Stapel Fotografien in ihren vor der Brust gefalteten Händen, dann sagte sie: »Also gut, beginnen wir noch einmal von vorne. Wissen Sie, wo Sie hier sind?«
»Ja«, sagte er tonlos. »Ich glaube, ja …«
»Und was glauben Sie?«
»In – einem Krankenhaus.«
»Sehr gut. Wissen Sie nun auch, warum Sie hier sind?«
»Weil ich … krank bin?«
Die Frau nickte anerkennend. »Sehr richtig. Und können Sie sich vorstellen, welche Konsequenzen das für Sie hat?«
»Nein …«
»Na schön, dann lassen Sie es uns zusammen herausfinden.«
Die Schlaufe um seinen Oberkörper gab so unvermittelt nach, dass er in die Knie sackte und vornüberfiel. Als er versuchte, sich aufzurappeln, kam der Assistent mit einem Infusionsständer herbei, der doppelt so massiv war wie sein vorheriger. Daran befestigt waren zwei riesige, prallvolle Beutel mit Infusionslösungen, die gemeinsam mindestens zehn Liter Flüssigkeit beinhalten mussten. Eine der Lösungen war grasgrün, die andere türkisfarben. Auf dem grünen Beutel prangten die Wörter Cutis, Musculus und Arteria, auf dem türkisen Caput, Spinae und Thorax.
»Machen Sie bloß nicht so ein verdutztes Gesicht, Mister Ka«, kommentierte die Schwester sein Entsetzen. »Diese Suppe haben Sie sich selbst eingebrockt.« Gemeinsam mit
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