Morphogenesis
Gesicht, die von dem einst klaffenden Loch herrührte. Auch die ausgeschlagenen Zähne wuchsen unnatürlich schnell nach. Mit der Zungenspitze konnte ich spüren, wie sie aus dem verheilenden Kiefer herausdrängten.
Ich verbannte jeglichen Gedanken daran, auf welch wundersame Art und Weise diese Heilung möglich sein konnte, und blickte mich um. Noch war nichts zu hören oder zu sehen, aber das dürfte sich schnell ändern. Die beiden Zyklopen würden Meldung machen, und sobald feststand, dass ich ein Flüchtiger war, der einen Chroner in den Pechsee befördert hatte, ging die Jagd erst richtig los. Ganz zu schweigen von der Drohung Kreuzbeißers und seines Gefolges, der mit Sicherheit seinen Teil dazu beitragen würde, mich in der Stadt bekannt zu machen wie einen bunten Hund.
Also begann ich zu rennen. Nackt wie ich war, hetzte ich durch Häuserschluchten und Tunnels, versteckte mich unter Brücken und im Gehölz. Unterwegs schickte ich einen Phlegmatiker, der in etwa meine Größe besaß und meine heranschnellende Faust nur mit einem einfältigen Lächeln quittierte, ins Land der Träume, legte ihn zwischen ein paar Büsche und nahm seinen grauen Overall und seine Sandalen an mich. Dann suchte ich einen abgelegenen Brunnen, wusch mir in stundenlanger Tortur das Pech vom Leib und kleidete mich an.
Nachdem ich mich an einem Sektorenkontrollpunkt vorbeigeschlichen hatte, fand ich mich in einem Stadtviertel wieder, das aussah, als hätte ihm eine Serie von Luftangriffen zugesetzt. Viele der Häuser waren grau und teilweise ausgebrannt, von anderen standen nur noch rußgeschwärzte Außenmauern. Nichts bewegte sich in den Straßenschluchten oder hinter den schwarz gähnenden Fensteröffnungen. Über den Dächern der Stadt kreuzte ein imposanter altmodischer Zeppelin. Bevor seine Gondel über der Strasse schwebte, hatte ich mich bereits in einen Hauseingang geflüchtet. Das Geräusch der Luftschiffrotoren entfernte sich wieder, blieb jedoch immer präsent. Ich schlich mich an den Häuserwänden entlang wie ein steckbrieflich gesuchter Verbrecher, durch von Schutt und Trümmern verstopfte Gassen, finstere Passagen und dreckige Hinterhöfe. Am Ende verzog ich mich zum Schlafen in eine dunkle Nische unterhalb eines halb eingestürzten Hauses und überdachte mein weiteres Vorgehen – oder besser: Voranschleichen. Irgendwie musste ich es schaffen, zurück ins Megaron zu gelangen.
Dann die richtige Tür, und raus …
Und dann?
Tja, Krispin, was dann?
Erneut fielen Ka vor Müdigkeit die Augen zu. Automatisch tat er noch zwei Schritte, dann verfehlte er eine Stufe und stolperte. Im letzten Moment fing er sich mit der freien Hand auf der Treppe ab und schaffte es zugleich, den kippenden Infusionsständer von der Wand fern zu halten.
»Bitte warten Sie!«, rief er der Schwester nach und ließ sich erschöpft auf die Treppenstufen sinken. »Ich muss mich ausruhen.«
Die Frau lief noch ein paar Schritte weiter, dann blieb sie abrupt stehen. »Das ist bereits die zweite Pause«, rügte sie ihn. Ihre Stimme ließ keine Spur von Erschöpfung oder Atemnot erkennen.
Ka hob eine Hand zum Zeichen, die unterschwellige Warnung verstanden zu haben. Er hatte sich in der Mitte des Treppenschachtes auf den Stufen ausgestreckt, den Infusionsständer fest an sich gepresst, um nicht mit den unter Strom stehenden Metallwänden in Berührung zu kommen. Die Beutel voller Infusionslösung ruhten schwer auf seiner Brust.
»Wie weit ist es noch?«, wollte er wissen.
»Die Hälfte der Strecke haben wir geschafft.«
Er hielt die Augen geschlossen, doch der Schreck über das Gehörte ließ ihn das Atmen vergessen. Zu Beginn hatte er noch seine Schritte gezählt. Als der Treppenschacht sich nach dreitausend Stufen weiterhin endlos in die Höhe schraubte, hatte er es aufgegeben. Es mussten mittlerweile zwei oder drei Kilometer Höhenunterschied sein, die sie überwunden hatten.
»Ich habe keine Kraft mehr«, erklärte Ka müde. »Es ist zu hoch. Die Treppe ist zu steil und der Infusionsständer zu schwer …«
»Hören Sie auf zu jammern«, drang es von oben herab an seine Ohren. »Jesus hat schwerer getragen auf Golgatha. Aber im Gegensatz zu Ihrer diente die Bürde, die er zu schleppen hatte, nicht seiner Genesung. Also reißen Sie sich gefälligst zusammen. Ich habe nicht ewig für Sie Zeit!«
Ka nickte. Zumindest glaubte er, den Kopf zu bewegen. Als das Hämmern seines Herzens und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren
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