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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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mein Blick den Dampf durchdrang. In eine kerbenartige Vertiefung des Gesteins war eine Steigleiter eingelassen, die senkrecht emporführte. Unmittelbar vor der Mauer schäumte und brodelte es wie in einem riesigen, kochenden Bottich, was mir ein mulmiges Gefühl bescherte. Mein Augenmerk galt jedoch den von schmierigem Film überzogenen Sprossen.
    Als ich mich der Stiege bis auf wenige Meter genähert hatte, sackte der elastische Grund plötzlich unter meinen Füßen weg. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, was der Boden gewesen war, auf dem ich mich bislang bewegt hatte. In einem Anfall von Panik schlug ich um mich, kraulte und pustete, strampelte mit den Beinen im dickflüssigen Schlamm wie ein Käfer, der in ein Honigglas gefallen war. Dann schwappte der Pechsumpf über mir zusammen, erstickte jegliches Geräusch und ließ mein Denken auf einen einzigen, in meinem Kopf hämmernden Instinkt zusammenschrumpfen: Leben!
    Meine Bewegungen waren zeitlupenhaft und bar jeglicher Koordination. Der Schmerz in meinem Brustkorb nahm beständig zu, und das rasende Hämmern meines Herzens wurde zum einzigen Geräusch, das ich in dieser Tiefe wahrnahm. Mein Körper schien Tonnen zu wiegen, vor meinen Augen explodierten bunte Lichtkreise. Die Todesangst, die für Sekunden mein Bewusstsein überschwemmte, wurde jäh verdrängt, als meine Finger die Sprossen der Leiter berührten. Alles in mir schrie danach, den Mund zu öffnen, um Luft zu holen. Hektisch arbeitete ich mich in die Höhe, ohne meine Beine auf der Leiter abstützen zu können, und dankte Gott, dass sie überhaupt bis unter die Sumpfoberfläche reichte. Sprosse für Sprosse zog ich mich kraft meiner Arme empor. Der Schmerz unterhalb meines Herzens war grauenhaft. Solange ich jedoch das Gefühl hatte, noch am Leben zu sein, zwang ich meine Hände, sich an die Leiter zu krallen.
    Dann durchstieß ich die Oberfläche, riss den Mund auf und sog die Luft tief in meine Lungen. Alles um mich herum verschwamm für wenige Augenblicke. Ich hatte Mühe, aufgrund des Sauerstoffschocks nicht ohnmächtig zu werden und in den Morast zurückzusinken. Mit aller Macht zog ich mich aus dem Pechsud, hechelnd wie ein Greyhound, der soeben das Windhundrennen von Hull gewonnen hatte, und klammerte mich an die Leiter. Dann wartete ich, bis sich mein Kreislauf erholt hatte. Als das Muskelzittern vorbei war, begann ich, die Stiege langsam emporzuklettern.
    Schon bald war der Pechsee unter dicken Dampfschwaden versunken. Der schmierige Film, der die Sprossen bedeckte, machte den Aufstieg zu einem halsbrecherischen Unterfangen. Wenn ich nicht Acht gab, lief ich Gefahr, mit meinen nackten Fußsohlen oder den Händen vom Metall zu rutschen und in die Tiefe zu stürzen. Die Mauer schien unermesslich hoch, zumal Details wegen des Nebels nach wie vor nur in unmittelbarer Nähe zu erkennen waren. Ich bemühte mich, nicht nach unten zu schauen, und bildete mir ein, über mir einen unsteten Lichtschimmer zu sehen, der von Meter zu Meter an Intensität gewann. Als der Nebel sich endlich lichtete, erkannte ich einen Pfahl. Daran gefesselt und von einer schweren Kette gehalten baumelte ein brennendes, zuckendes Bündel. Der Pfahl reichte ein paar Meter über den Rand der Mauer hinaus und war so platziert, dass er den letzten Abschnitt des Aufstiegs beleuchtete.
    Ich kletterte vorsichtig höher, hielt dabei ab und zu inne und lauschte nach verdächtigen Geräuschen. Mein Blick hing an dem brennenden Bündel. Was da von einer Eisenkette umschlossen in Flammen stand, war ein Mensch! Er war schwarz verbrannt, seine Augen in der Hitze geschmolzen. Die verkohlte Haut blätterte beständig ab und wurde immer wieder durch neues, rosarotes Fleisch ersetzt, das seinerseits anfing zu brennen. So spendete die menschliche Fackel endlos lodernd ihr Licht, ohne jemals vom Feuer verzehrt zu werden. Schnee aus verbrannten Hautfetzen und Asche rieselte auf mich nieder.
    Als ich mich knapp unterhalb der Mauerbrüstung befand, erschien über mir das höhnisch grinsende Gesicht eines Chroners.
    »Na, was haben wir denn da?«, fragte der Aufseher scheinheilig. Einen Augenaufschlag später blickte ich auf die dornenartige Spitze seiner Rebasche. »Wollten wir etwa über die Mauer klettern, hä?« Der Chroner war ein Omnivore. Spitze Raubtierzähne standen in seinem Mund neben nilpferdartigen Hauern und bildeten ein katastrophales dentales Stillleben, das er mir entgegenbleckte. »Sag, du hast dich nicht zufällig ein wenig

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