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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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so an, Krispin? Passt dir das etwa nicht?«
    Ich betrachtete die Frau. Sie war höchstens dreißig Jahre alt. Wahrscheinlich hatte man sie lobotomiert. Dasselbe wäre mir wohl ebenfalls widerfahren, wenn ich länger in Merets Palast geblieben wäre …
    »Du willst mich zum Narren halten«, antwortete ich.
    Leainti lächelte unbeeindruckt. »Viele in diesem See sind weitaus älter als ich, und fast jeder von ihnen fragt sich, warum er hier ist.«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Oh, du wirst es – in ein paar hundert Jahren …«
    Ich sah empor in den Dunst. Was, wenn sie Recht hatte und dieses gigantische Flugobjekt wirklich ein Aufenthaltsort der Verdammten war? »Hat nie jemand von euch versucht, dem Sumpf zu entkommen?«
    »Viele. Doch man erzählt sich, jeden, der entkommt, erwartet etwas viel Schlimmeres als das bīt ekletu.« Die Frau nahm meine Hand, und ehe ich mich versah, hatte sie mir mit einem ihrer Fingernägel eine tiefe Wunde in die Haut geschnitten. Ich riss den Arm zurück. Das Pech brannte höllisch, als es in die Verletzung lief. Blut trat aus und erzeugte eine rote Nuance im schwarzen Schlamm. Dann traute ich meinen Augen nicht, denn während ich hinsah, schloss sich die Wunde langsam. Nach kurzer Zeit war nicht einmal mehr eine Narbe zu erkennen.
    »Was in aller Welt …?«, stotterte ich. »Wie hast du das gemacht?«
    Leainti hauchte mir einen pechverschmierten Kuss auf die Lippen. »Du musst akzeptieren, ein Verdammter zu sein, Krispin. Und glaube mir, die Zeit dazu ist dir gegeben.«
    »Welches Reich regierte dein Gebieter?«, wollte ich wissen.
    »Qablat kibri.«
    Ich seufzte. »Das sagt mir nichts.«
    »Es war die Mitte der Welt.«
    »Hattet ihr Städte?«
    »Natürlich.« Leainti überlegte, als hätte sie ihre Namen vergessen. »Calah, Assur, Tepe, Arbela, Ninive …«
    »Das sind babylonische Städte«, staunte ich. »Im Norden des heutigen Irak.«
    »Irak?«
    »Persien.«
    »Oh ja, so nannte es auch Beau Gunod.«
    Der Name kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihn keinem Gesicht zuordnen. »Erzählte er dir von den Gruben der Malebolge?«
    »Nein, es war ein anderer. Ein Venezianer, glaube ich. Sein Name war Giacomo.« Sie lächelte. »Giacomo Casanova. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gespürt …« Sie sah sich um, als suche sie ein bekanntes Gesicht. »Hier im See sind Hunderte von Menschen, Krispin. Schwachsinnige und Intellektuelle, Mörder und Heilige. Liebesdiener allesamt. Irgendjemand erzählt dir immer eine Geschichte aus seinem Leben, falls ihm nach Atmen zumute ist.«
    »Und falls nicht?«
    »Dann liegen wir auf dem Grund und lieben uns, schlafen oder warten, bis ein neuer Verdammter in die Grube gestürzt wird. Zeit macht geduldig und weise.«
    Ich sah mich um. »Hat dieser Pfuhl Grenzen?«
    »Er ist von hohen Mauern umgeben.«
    »Wie weit ist es dorthin?«
    Leainti sah auf. »Du willst uns verlassen?«
    »Ich bin kein Verdammter.«
    »Oh, natürlich nicht …« Es klang nicht sehr überzeugt. »Sollte das wahr sein, so bist du der Erste, der sich freiwillig zu uns hinab verirrt hat.« Leaintis Blick schweifte in die Höhe, sehnsüchtig, wie es mir vorkam. »Entweder bist du der dümmste Günstling, den ich je getroffen habe – oder ein listiger Iretmeth …«
    »Was soll das sein?«
    »Das, Krispin, musst du selbst herausfinden. Geh jetzt, ehe wir es uns anders überlegen und dich bei uns behalten.«
    »Gehen? Wohin denn?«
    »Wohin du willst. Eine Richtung ist wie die andere.« Leainti schmiegte sich noch einmal an mich und strich mir mit einer Hand durchs pechverklebte Haar. »Aber sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, falls es dir übel ergehen sollte. Wir warten auf dich.« Sie küsste mich zum Abschied, dann versank ihr Kopf wieder im Schlamm. Ich griff nach ihr und wollte sie zurück an die Oberfläche ziehen, doch sie glitt davon und entfernte sich rasch.
    Geraume Zeit blieb ich stehen und versuchte im Dampf etwas zu erkennen, aber die Frau tauchte nicht mehr auf. Völlig desorientiert irrte ich daraufhin mal nach hier und mal nach da, ohne zu wissen, wohin ich mich wenden sollte. Insgeheim hoffte ich, zufällig noch einmal auf Leainti zu stoßen, doch der Pechsee schien wieder leblos und leer. Keine Hand berührte mich mehr, kein weiterer neugieriger Kopf tauchte auf. Ich war allein inmitten Tausender von versunkenen Leibern.
     
    Lange watete ich umher, ehe sich vor mir endlich eine monströse Mauer aus dem Dunst schälte. Sie ragte in die Höhe, so weit

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