Morphogenesis
Unterleib stieß. Ich gab einen gedämpften Schmerzenslaut von mir.
Der Fremde erstarrte, wobei er einen verhaltenen Fluch ausstieß. Weit aufgerissene Augen schimmerten gelblich in der Dunkelheit, und ich hörte ihn erregt atmen. »Mi atta?«, zischte er. »Maddua’ nachbetha mi-thachath?« [8]
Ich beugte mich vor, um die Gestalt deutlicher erkennen zu können, und sah in das gehetzte Gesicht eines bärtigen jungen Mannes.
»Kommen Sie rein!«, flüsterte ich in der Hoffnung, dass er mich verstand, und machte mich noch kleiner, um ihm den nötigen Platz zu verschaffen. »Ich tue ihnen nichts!«
Der Fremde murmelte etwas Unverständliches. Er blickte verängstigt die Straße empor, dann zwängte er sich zu mir in die Enge. Ehe ich mich versah, hielt er mir ein primitives Messer an die Kehle. »Wer biste?«, fragte er mit unverkennbar jiddischem Akzent. »Un wos suchste hier? Red schon, oder ich schnejd dir de Kehle durch!«
»Hippolyt …«, krächzte ich unter dem verstärkten Druck der Klinge. »Hippolyt Krispin!«
Der Fremde sah mich finster an, dann glättete sich sein Gesicht, und er ließ das Messer gewandt in den Falten des Mantels verschwinden. »Baruch ha-schem, [9] bist a Griner«, stieß er erleichtert hervor. »Dacht schon, du sejst a abtrinniger Landsknecht.« Er legte seine Arme zur Begrüßung um mich und drückte mich an sich, dann musterte er mich von oben bis unten. »Wos machst hier? Hob dich noch nie gesejn in dejse Zon.«
Auf der schmutzigen Haut seines Unterarmes prangte ein Merkabah- Symbol; ein Wagenrad, zwischen dessen vier Speichen hebräische Buchstaben tätowiert waren: der Gottesname YHWH. Ich starrte wie hypnotisiert auf das Stigma, dann in sein Gesicht.
»Ich – bin auf der Flucht«, brachte ich schließlich hervor. »Wie Sie.«
»Dacht ich mir«, grinste er. »Stinkst nach Pech. Bist ihne entwischt, wos?« Er schlug mir anerkennend auf die Schulter, drehte sich um und schien etwas zu suchen. Ich vernahm ein Schleifen, dann hielt er ein massives Gitter in der Hand, das ich in der Dunkelheit übersehen hatte. Es war so groß, dass es den Zugang passgenau schloss. Als der Mann die Öffnung sorgfältig versperrt hatte, kroch er an meine Seite, lehnte sich ebenfalls an die Mauer und starrte angespannt auf die Straße.
»Was geht da draußen vor?«, fragte ich, während mir die wildesten Gedanken durch den Kopf schwirrten. Gott bewahre, dass er nicht das antwortete, was ich befürchtete …
»Se jagen de Unwejsn«, erklärte der Fremde.
Unter uns begann der Boden zu vibrieren, und ich vernahm ein anschwellendes Rasseln und Dröhnen wie von einer Planierraupe.
Nein, Krispin, das ist ein Panzer! Eindeutig ein Panzer!
Nun hörte ich wieder die Autohupe. Befehle wurden geschrien, auf Französisch, Italienisch oder Deutsch, die meisten jedoch in einer kehligen, unbekannten Sprache, die ich bereits des Öfteren in der Stadt vernommen hatte. Ich verstand einzelne Satzfetzen, ohne zu wissen, wo ich sie aufgeschnappt hatte und wie die Sprache hieß. Sie war wie eine graue, lückenhafte Erinnerung an einen sinnlosen Traum, dessen Bedeutung ich nicht begriff.
»Welche Unwesen?«, erkundigte ich mich. »Die Chroner?«
»De Golems.« Der Mann verfolgte gebannt das Geschehen auf der Straße. »Unsre verfluchte Golems.«
»Und der Lärm? Das sind doch Panzer …«
»De Soldaten in ihre eiserne Maschejne.« Er warf mir einen kurzen Blick zu, als hätte er aus dem Augenwinkel heraus mein Erschrecken bemerkt. »Sind verdammt, de Unwejsn zu jagen. Aber se jagen se, ohne se jemals zu erwisch’n. Derwejl jagen de Golems uns. Ist a grausames Spiel. Hett ich net hier un dort a Versteck …« Er ließ den Rest des Satzes offen.
Ich sah den bärtigen Fremden an. »Wer sind Sie?«
»Ich hejß Meliosch.«
Draußen rasselte der erste Panzer vorbei, gefolgt von rennendem Fußvolk. Ab und zu knallte ein Schuss, doch davon abgesehen hetzte die aus Hunderten, vielleicht Tausenden von Soldaten bestehende Meute an unserem Versteck vorüber, ohne uns zu bemerken. Weitere Panzer tauchten auf, moderne und historische Modelle zahlloser Armeen, gefolgt von Jeeps, schwarz verglasten Limousinen und vereinzelten Krafträdern mit Beiwagen. Dazwischen galoppierten Reiter auf Pferden, sogar Fahrräder kreuzten inmitten der Menschenmasse. Die Soldaten trugen Uniformen unterschiedlichster Nationen. Ich erkannte Engländer, Franzosen, Deutsche und Italiener, Araber, Schwarzafrikaner oder auch Griechen. Sie trugen
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