Mortal Kiss
glänzten im Lampenlicht, und ihre langen Wimpern warfen Schatten auf die hohen Wangenknochen. Ihre vollen Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, von dem Lucas nicht recht wusste, ob es auch in ihren Augen stand. Sie trug einen geschneiderten Hosenanzug aus edlem, naturfarbenem Leinen über einem schlicht weißen Baumwollhemd und eine mehrfach um den Hals gewundene Kette aus seltsamen Perlen. Der helle Anzug betonte die blasse Gleichmut ihres Gesichts, doch sie war kaum geschminkt, was die Klatschreporter auf der ganzen Welt womöglich schockiert hätte. Aber Mercy Morrow sah ungeschminkt genauso umwerfend aus wie geschminkt. Lucas hatte den Eindruck, dass sie sich seit seiner frühen Kindheit nicht verändert hatte, nahm aber an, dass Eltern ihren Kindern stets unverändert vorkamen.
»Hi, Mom. Hattest du einen schönen Tag ?«
Mercy zuckte mit den Achseln. »Ich bin ins kleine Heilbad der Stadt gefahren und hab mich von einer Frau massieren lassen. Es war … annehmbar. Allerdings hat sie geplappert, ohne Luft zu holen .«
Lucas schnaubte verächtlich. »Du bist also beschäftigt, ja ?«
Seine Mutter kniff die Augen zu. »Mach dich nicht lustig über mich, Lucas. Das ist langweilig. Genau wie diese fade Kleinstadt .«
Er seufzte gereizt. »Ehrlich, Mom, warum sind wir hier? Das ist doch … das ist das Ende der Welt. Man kann nichts unternehmen, und du weißt doch, dass du spätestens in zwei Wochen tödlich gelangweilt bist. Können wir nicht einfach woandershin? Wo irgendwas los ist ?«
»Ich wollte, dass wir uns an einem ruhigen Fleckchen entspannen « , erwiderte Mercy kalt. »An einem Ort mit ein wenig … Geschichte .«
»Geschichte? Klar, der Ort hat Geschichte. Wenn du darunter verstehst, dass Abraham Lincoln für eine Nacht im hiesigen Gasthaus abgestiegen ist. Länger konnte er es vermutlich nicht ertragen .« Lucas hob die Hände. »Wenn du an einen ruhigen Ort wolltest, hätten wir nach Barbados gehen können. Dort hättest du eine annehmbare Massage ohne Geplapper bekommen, und ich hätte windsurfen können. Stattdessen sind wir in die letzte Provinz gezogen, wo jeder Einheimische in unsere Fenster glotzen will und es nichts anderes zu tun gibt, als alle halbe Stunde nachzuschauen, ob deine Zehen schon abgefroren sind .«
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir, Lucas !« , fauchte Mercy verärgert. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du je etwas zu deinem Lebensunterhalt beigetragen hättest, und solange das so bleibt, gehen wir, wohin ich will und wann ich es will. Ist das klar ?«
»Ich habe schließlich keine Wahl, oder ?«
Mercy lächelte und wandte sich dem Spiegel hinter ihm zu, um ihre Frisur zu überprüfen. »Es freut mich, dass wir uns verstehen .«
»Prima. Ich gehe jetzt. Und es ist mir egal, ob dir das passt oder nicht .«
Mercy hob einen langen Arm und schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Geh ruhig. Solange du hier nicht rumschleichst und jammerst, ist es mir gleich .«
Lucas ging verärgert an ihr vorbei und knallte die Tür hinter sich zu. Da er sich beobachtet fühlte, schaute er auf und sah Ballard mit einem widerwärtigen Lächeln im Gesicht am anderen Ende der Eingangshalle stehen.
KAPITEL 9
Ein Hundeleben
F inn starrte ins Feuer, das sie angezündet hatten, um das Zeltlager zu wärmen, und dachte an die Geschehnisse im Einkaufszentrum. Dabei beschäftigte ihn nicht der Vorfall mit dem Ladenbesitzer und den Wachleuten. Dieses Verhalten war er gewöhnt und wusste längst, dass man solchen Menschen am besten entgegentrat, indem man über der Situation stand. Schließlich hieß es, man sollte die Menschen an ihren Taten messen, nicht an ihren Worten, und jeder, der genau hinsah, würde bald begreifen, dass sie nicht die diebischen Vagabunden waren, für die man sie so oft hielt. Nein, was Finn beschäftigte, war seine Begegnung mit dem Mädchen. Faye – so hatte ihre Freundin sie genannt. Doch ein anderer Name spukte durch Finns Träume, ein Name, der auch zu diesem Gesicht passte. Er hatte durch dieses Fenster geschaut und geglaubt, einen Geist zu sehen. Noch immer spürte er den Schock, der ihm bei ihrem Anblick durchs Herz gefahren war.
Finn hörte Schritte hinter sich knirschen, drehte sich um und sah seinen Vater durch den frisch gefallenen Schnee kommen. Joe Crowley war schon seit unzähligen Jahren der Anführer der Black Dogs, und die Gruppe achtete ihn mehr als jeden anderen. Er war ein stattlicher Mann mit breiten Schultern, und die Lederkluft, die er
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