Mortal Kiss
sollte heute wenigstens einmal mit ihr reden, bevor er sich auf den Weg zu Candi Thorssons Party machte. Als wären sie eine richtige Familie. Er hätte beinahe abgelehnt, als das Mädchen ihn einlud, denn er hatte keine Lust, den ganzen Abend lang angegafft zu werden. In der Schule war es schon schlimm genug. Aber was sollte er sonst tun? Hier allein rumhängen? Also hatte er zugesagt. Vielleicht würde es ja ganz lustig werden. Die Einheimischen konnten unmöglich schlimmer sein als die Superreichen mit ihrer Sonnenstudiobräune, die ihn sonst umgaben, und möglicherweise konnte er sich mit jemand Interessantem unterhalten. Mit dieser Faye zum Beispiel, also Flash. Sie schien klug zu sein. Und hübsch war sie auch.
»Hallo ?« , rief er wieder und öffnete eine weitere Tür. Zwei Lampen brannten und tauchten das Wohnzimmer in trübes Licht, doch noch immer war von seiner Mutter nichts zu sehen.
Lucas schaute sich im Zimmer um. Hier war er noch nie gewesen. Noch eine Ecke des Hauses, die zu erkunden er sich nicht die Mühe gemacht hatte. Nun aber bemerkte er den riesigen, reichverzierten Spiegel über dem kalten Kamin. Alle Möbel standen im Halbkreis um ihn herum, als wäre es ein Fernsehgerät oder ein besonders schönes Gemälde.
»Ah « , sagte er. »Dahin hat sie dich also getan? Mir war doch so, als hätte ich dein hässliches Gesicht schon eine Weile nicht mehr gesehen .«
Lucas trat vor den Spiegel und musterte den alten, prächtig geschnitzten Holzrahmen. Dieses Möbelstück tauchte in vielen seiner Erinnerungen auf. Egal, wo sie hinzogen, egal, wie weit sie reisten … dieser Spiegel begleitete sie stets. Der Transport musste seine Mutter ein kleines Vermögen kosten, und doch hatte sie nie auf ihn verzichtet. Er hatte nicht gefragt, warum, vermutete aber, dass es sich um ein wertvolles Erbstück handelte. Andererseits wurde seine Mutter es nie leid, ihr Konterfei zu betrachten. Womöglich mochte sie einfach, wie sie darin aussah.
Lucas schaute in den Spiegel. Ihm fiel auf, dass er sich kaum einmal selbst darin betrachtet hatte. Das Glas verfärbte alles leicht ins Bläuliche, als wäre jede Reflexion weiter entfernt, als sie eigentlich sein sollte. Er musterte sich und überlegte, ob sein Gesicht wirklich dem seiner Mutter ähnelte, wie alle Welt ihm so gern versicherte. Ja, er besaß ihre Augen, aber alles andere – die Nase, der Mund, das Kinn – hatte keine Ähnlichkeit mit ihr.
Er betastete sein Gesicht und fragte sich, wie sein Vater aussah. Mercy sprach nie von ihm und hatte nicht eine Andeutung gemacht, um wen es sich handeln mochte. Vielleicht wusste sie es nicht, jedenfalls wollte sie gewiss nicht darüber reden. Doch je älter er wurde, desto nachdenklicher wurde er. Ob sein Vater irgendwo da draußen war? Ob er überhaupt von seinem Sohn wusste? In allen Zeitungen erschienen ständig Fotos von Lucas. Vielleicht sah sein Vater sie und wunderte sich ebenfalls. Womöglich erkannte er ja etwas von sich in seinem lange verlorenen Sohn wieder.
Für Lucas hatte es immer nur seine Mutter gegeben. Und dumme Leibwächter, die ihr folgten wie abgerichtete Tiere. Ballard war nur der Neueste von dieser Sorte. Lucas konnte ihn nicht ausstehen. Er hatte nie das Gefühl gehabt, seine Mutter zu kennen, nicht richtig jedenfalls, nicht so, wie andere ihre Eltern zu kennen schienen. Das führte er vor allem darauf zurück, von einem hohlköpfigen Angestellten nach dem anderen beaufsichtigt worden zu sein. Und auch wenn mal keiner von denen zugegen war, gab es zwischen ihnen nichts zu sagen, was …
Plötzlich huschte etwas am Rande seines Gesichtsfelds vorbei, etwas kaum Wahrnehmbares, eine krabbelnde, insektenhafte Bewegung in der Tiefe des Spiegels. Lucas trat verschreckt zurück, stieß gegen einen Tisch und hätte beinahe die Lampe umgeworfen.
»Also wirklich, Lucas « , hörte er die gelangweilte Stimme seiner Mutter. »Du bist echt ein Trampeltier. Versuch wenigstens, etwas vorsichtiger zu sein, ja ?«
Lucas drehte sich um und sah Mercy Morrow – eine schlanke, sehr gepflegte Hand auf der alten Klinke – in der Tür stehen. Kein Wunder, dass alle Welt sie für schön hielt. Sie war schön. Hochgewachsen und perfekt gebaut. Ihr üppiges blondes Haar, das das zierliche, bleiche Oval des Gesichts umgab, war wie üblich zu einer komplizierten Frisur aus Wellen und Locken hochgesteckt, an der sie sicher stundenlang gesessen hatte. Ihre mandelförmigen Augen waren blauer als selbst die von Lucas und
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