Mortimer & Miss Molly
und Byrons Balladen ebenso wie die Romane der Schwestern Brontë. Aber sie liebte auch die Stücke und vor allem die Märchen von Oscar Wilde. Und sie liebte die Kinderbücher, die sie Chiara und Filiberta vorgelesen hatte:
Winnie-the-Pooh
von A.A. Milne und die
Doctor-Dolittle
-Bände von Hugh Lofting, besser geschrieben, fand sie, als so manche Erwachsenenbücher – manchmal hatte sie Sehnsucht gerade nach diesen Büchern und las sie sich selbst vor.
Die Bianchis mochten ihre Ex-Gouvernante. Nicht nur die inzwischen erwachsenen Töchter, die sie noch öfter besuchten, jedenfalls bevor sie heirateten, sondern auch die Eltern, die Marchesa und der Marchese. Der Marchese mochte sie sogar ganz besonders. Im Lauf der Jahre hatte man sich sehr an sie gewöhnt.
Also blieb sie einfach im Mauerhaus wohnen. Und bekam weiter ihr monatliches Salär. Man hatte ihr schließlich einiges zu verdanken. Mit der Zeit gehörte sie beinahe zur Familie.
Als der Krieg begonnen hatte und die Lage sich nach und nach zuspitzte, hatten sie ihr sogar angeboten, zu ihnen in den Palazzo zu ziehen. Im Parterre hätte es durchaus geeignete Räumlichkeiten für sie gegeben, ein hübsches
appartamento
mit Deckenfresken. Aber Miss Molly hatte es vorgezogen zu bleiben, wo sie war. In der
palazzina
, wie die Bianchis das Mauerhaus liebevoll nannten.
Sie gehörte in dieses Haus, und dieses Haus gehörte zu ihr. Auch wenn es natürlich der Familie Bianchi gehörte und auch wenn sie von dieser Familie abhängig war. Von dieser Familie, die sie auch schützte und für sie diverse Formalitäten erledigte. Formalitäten, an die sie,
un po’ fuori dal mondo
, ein wenig außerhalb des Weltgeschehens, wie sie tatsächlich war, nicht gedacht hätte.
Etwa die leidige Geschichte mit der Staatsbürgerschaft. Bis weit hinein in die Dreißigerjahre war es kein Problem gewesen, dass sie Engländerin war. Was sollte daran falsch sein, namentlich für eine Englischlehrerin? Aber als sich abzeichnete, dass Italien und England Kriegsgegner werden könnten, ließ der Signore Bianchi, der zur faschistischen Regierung ebenso gute Beziehungen hatte wie zu allen anderen Regierungen vorher und nachher, diese Beziehungen spielen und verschaffte Miss Molly die entsprechenden Dokumente.
Auf dem Papier war sie nun Italienerin. Aufgrund irgendwelcher Verwandtschaften, von denen sie bis dahin selbst nichts geahnt hatte. Ihr Vorname in diesem Dokument lautete übrigens nicht Mary, sondern Maria. Der Name Kinley allerdings ließ sich nicht italianisieren.
So lebte sie nach wie vor in diesem Haus. Eine Frau (oder ein Fräulein, eine Signorina oder eine Miss eben) allein. Das war eine Lebensweise, die ihr entsprach. Schon als junges Mädchen war sie einerseits schüchtern gewesen, hatte aber andererseits auch gute Gründe dafür gefunden, warum sie anderen Menschen gegenüber lieber eine gewisse Distanz hielt.
Sie war einfach so. Und sie fand das durchaus in Ordnung. Allein zu leben war das Richtige für sie. Und hier hatte sie es ja ideal getroffen. In diesem Haus mit ihren Büchern und ihren Schellacks, die sie auf den Plattenteller des Grammophons legte, das ihr der Marchese geschenkt hatte, und in diesem Park mit seinen Beeten und Alleen, mit seinen von Vögeln und Zikaden bevölkerten Bäumen und Sträuchern, hatte sie ihr Alleinsein bisher nicht als Mangel empfunden, sondern als Geschenk.
Der Krieg, ja, der Krieg hatte natürlich manches überschattet ... Aber sie hatte diesen Schatten bisher nicht ganz an sich herangelassen ... Nun aber lag ein amerikanischer Soldat da draußen auf dem Sofa ... Ein fremder Mann, dessen Anwesenheit ihr auch im Halbschlaf bewusst war.
7
Nicht dass sie sich vor ihm fürchtete, aber dass er da war, versetzte sie doch in eine gewisse Unruhe ... Hatte sie mit ihm, den sie instinktiv vor der Gefahr draußen in vorläufige Sicherheit zu bringen versucht hatte, den Krieg hier hereingeholt? In ihr Mauerhaus, das ihr bisher, kraft eines Glaubens, der sich vielleicht schon heute Nacht oder morgen Früh als Aberglaube erweisen würde, als irgendwie magisch geschützter Bereich erschienen war? Hatte sie ihn, diesen beneidenswert tief schlafenden Mortimer, jetzt in diesen magischen Bereich hereingenommen, oder hatte sie die schützende Magie gerade dadurch zerstört?
Was war dieser Flieger überhaupt für ein Mensch? ... Jedenfalls hatte er keine guten Manieren bei Tisch ... Und Konversation war offenbar auch nicht seine Stärke ... Überdies war
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